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Das Licht Christi scheint auf alle – Hoffnung auf Erneuerung und Einheit in Europa

Andrea Riccardi

Andrea RiccardiDie Christen Europas haben in diesen Tagen eine gute Gelegenheit, gemeinsam die Bedeutung unseres Kontinents im Kontext der Welt zu betrachten, wenn sie diese Versammlung von Sibui nicht als rituelles Ereignis ansehen. Vor zehn Jahren in Graz lag der Fall der Mauer noch nicht lang zurück, es war eine christliche Versammlung des wiedervereinigten Europa. Es herrschte Begeisterung! Heute hat sich die Welt verändert. Die Zukunft ist weniger begeisternd. Hier und dort herrschen Skepsis, auch was unsere Versammlung betrifft: welchen Nutzen hat sie?

Uns stellen sich wichtige Fragen. Die Welt stellt sie uns, wodurch wir gezwungen werden, über unseren Horizont hinwegzublicken. Wie kann das Leben Europas erneuert werden, die Einheit wachsen? Wie kann Europa der Welt Menschlichkeit und das Evangelium vermitteln? Und dann die Frage, wie wird unsere Welt von morgen aussehen? Sicherlich wird sie weniger europäisch sein und weniger von Europa beherrscht werden. Dagegen beschränkt man sich oft darauf, das eigene Land oder die eigene Gemeinschaft zu betrachten. Natürlich hat jede Gemeinschaft ihre Probleme. Doch das genügt nicht. Die heutigen Herausforderungen kann man nur im Kontext von weiten Horizonten begreifen. Die globale Welt erfordert einen weiten Blick, jedoch keinen Blick, der sich auf die Modelle einer globalisierten Kultur beschränkt. Ein christlicher Blick ist notwendig, der kühn ist wie bei den ersten christlichen Generationen, der fähig ist, Partikularismen zu überwinden, die durch Angst vor der Welt und fehlendes Vertrauen auf die Kraft des Evangeliums entstehen. Am Jakobsbrunnen sagt Jesus im Gebiet der Samariter zu den Jünger, während sie in kleinlichen Diskussionen gefangen sind: „Blickt umher und seht, dass die Felder weiß sind, reif zur Ernte“ (Joh 4,35).

Ich möchte versuchen, die Augen zu erheben und auf die Felder der Welt zu blicken. Dabei bin ich mir der Begrenztheit meiner Erfahrung als europäischer Christ und Historiker bewusst, der sich mit den Ereignissen der Welt beschäftigt und vor allen Dingen durch die Erfahrung der Gemeinschaft Sant’Egidio mit vielen armen Ländern in Berührung gekommen ist. Im Vergleich zu vielen Teilen der Welt erscheint Europa eindeutig als reich an Gütern. Dazu gehört vor allen Dingen der Friede, dieses kostbare Erbe von sechzig Jahren Frieden. Zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert lagen nur zwanzig Jahre. Dann kehrte 1939 der Krieg zurück. Ich bin Italiener und 1950 geboren, und damit verrate ich auch mein Alter; ich habe in meinem Leben niemals Krieg in meinem Land erlebt. Das war bei meinen Eltern und Großeltern nicht so. Dieser Friede ist ein großes Geschenk.


Am Abgrund des Zweiten Weltkriegs haben die Europäer endlich die Torheit verstanden sich zu bekämpfen. Wie viele Jahre wurden Frauen, Kindern, Männern durch törichte Kriege, unerhörte Gewalt und Massaker geraubt! Am Abgrund des Zweiten Weltkriegs haben die Europäer verstanden, dass nie wieder die einen gegen die anderen sein dürfen, sondern immer mehr die einen mit den anderen leben müssen! Daraus ging trotz mancher Unsicherheiten und Verzögerungen der europäische Einigungsprozess hervor. Das Jahr 1989 hat das Erbe der Trennung von 1945 beseitigt. Die Befreiung vom Kommunismus geschah ohne Waffengewalt in Auseinandersetzung mit Regimes, die auf Gewalt und Zwang gegründet waren. Leider kam es dann auch zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. Doch heute herrscht auf unserem Kontinent Frieden und auch ein verbreiteter Wohlstand; wobei er in manchen Ländern sehr groß ist, und es mehr oder weniger große Gebiete von Armut gibt. Frieden und Wohlstand. Für die Jugendlichen könnte der Friede normal erscheinen, doch er ist außergewöhnlich in unserer Jahrhunderte langen Geschichte. Er ist ein Segen Gottes und eine heilige Gabe!

Doch wie sollen wir mit diesem Friedenserbe umgehen? Die Versuchung besteht, es zu verschwenden, wie es bei Erbsachen häufig geschieht. Ja, der Friede wird durch wieder auftretende nationalistische Leidenschaften verschwendet. Das ist eine gegen die Geschichte gerichtete Position. Denn die meisten europäischen Länder, ob klein oder größer, können die großen Herausforderungen der Welt, die Auseinandersetzung mit den Wirtschaften und Kulturen der großen asiatischen Länder China und Indien nicht allein bewältigen. Nationalistische Leidenschaften machen blind für die Wirklichkeit. Sie gehen heute nicht vorwiegend aus dem Willen nach Herrschaft über andere hervor, sondern aus dem Wunsch, für sich zu leben.

Auch auf andere Weise wird der Friede, dieses Erbe aus vielen Schmerzen und Mühen des 20. Jahrhunderts, verschwendet. Indem Europa zu einer Festung mit Mauern an seinen Grenzen gemacht wird. Doch wenn man Mauern zur Verteidigung errichtet, kehren die Dämonen des 20. Jahrhunderts zurück, die Dämonen der Bruderkämpfe. Mauern werden aus Angst vor einer Welt errichtet, die zu groß geworden ist, mit zu vielen Protagonisten, Dynamiken und Kräften. In unserer europäischen Geschichte haben wir keine Festung aufgebaut, unser Kontinent war vielmehr nach außen ausgerichtet. Unser Kontinent ist mit der asiatischen Welt verbunden, durch das Mittelmeer mit Afrika und dem Nahen Osten vereint und blickt auf den Horizont des Atlantik. Es gibt eine Eroberungsgeschichte des Imperialismus mit negativen Folgen; eine missionarische Geschichte.

Europa darf keine Insel werden, die wie eine Festung geschützt ist. Wir Europäer sind versucht, uns aus der Geschichte zurückzuziehen, vielleicht mit der Ausrede, das Böse der Vergangenheit nicht wiederholen zu wollen. Wir machen uns Sorgen. Wir sind nicht mehr, wie wir waren. Es gibt einen Verfall; das zeigen auch die demographischen Prognosen. 2005 waren die europäischen Christen insgesamt weniger als die afrikanischen oder lateinamerikanischen Christen. Und dann gibt es auch eine Leere, weil Visionen für die Zukunft fehlen. Die Politik beschränkt sich häufig auf den Realismus, der durch die Finanzen vorgegeben wird. Dann hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Europa der Fehlschlag von politischen und sozialen Ideen gezeigt: der Utopie der marxistischen Ideologie, der Ideen, die Gesellschaft verändern zu können... Alle sind vorsichtiger und zurückhaltender geworden, was die Gestaltung der Zukunft betrifft.

Als Johannes Paul II. vor ca. dreißig Jahren zum Papst gewählt wurde, sagte er mit prophetischer Kraft: „Fürchtet euch nicht”. Damit wiederholte er den alten Aufruf von Ostern. Er wird immer wieder in der Bibel wiederholt, denn die Angst durchdringt viele Bereiche der Geschichte der Menschen und Völker. Die Angst geht nicht vorüber, wenn man darauf verzichtet, in der großen Welt aktiv zu sein und Mauern errichtet. Auch die nationalistische Droge des Stolzes auf unsere Kultur vertreibt die Angst nicht. Man findet den Stolz auf sich nicht, indem man am Horizont Feinde ausmacht. Das ist einfach, und dabei könnte man die Fahne des Christentums gegen eventuelle Feinde hissen. Heute sind wir Europäer nicht mehr, was wir waren. Doch das ist kein Grund, uns durch betrügerische Leidenschaften gefangen nehmen zu lassen oder uns vor der Geschichte zu verstecken. Wir sind nicht, was wir waren, doch was werden wir sein? Wir werden das sein, was wir als Frauen und Männer leben und kommunizieren können. Europa ist unsicher und eingeschüchtert, reich an Frieden und Wohlstand. Und wir europäische Christen? Das Wort des Herrn ist eine Leuchte für unsere Schritte. Wenn wir auf das Wort hören, zeigt es uns einen Weg. Jesus sagt zu den Frauen am Grab: „Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten“ (Mt 28,6). Wer Jesus, den Gekreuzigten, sucht, befreit sich von der Angst. Im 20. Jahrhundert haben das die neuen Märtyrer getan. Viele in Russland, und dieses Gedenken erfüllt uns mit Respekt gegenüber den russischen Christen, in Osteuropa, und ich denke an die Leiden von Albanien, in Spanien, unter dem Nationalsozialismus, in den Missionsländern außerhalb Europas. Die Suche nach Jesus, dem Gekreuzigten, hat ihnen eine demütige Kraft geschenkt angesichts übermächtiger Gewalten, eine schwache Kraft. Während Europa im 20. Jahrhundert neue Ordnungen aufbauen wollte, erlebte es eine Zeit des Martyriums.

Wenn die Christen diese Suche nach Jesus, dem Gekreuzigten, leben, können sie die Kultur der Angst und die Verschwendung des Friedens, des Wohlstands und der Freiheit in Frage stellen. Der weise Martin Buber sagte: „Bei sich selbst anfangen, das ist das einzige, was zählt... der Punkt des Archimedes, der es ermöglicht, dass ich selbst die Welt aufrichten kann, besteht in meiner eigenen Veränderung“. Der spirituelle Mensch beginnt bei sich selbst und verzichtet nicht darauf, die Welt aufzurichten. Der Weg der Bekehrung. Das Aufrichten der Welt beginnt im Herzen. Die Welt aus dem Bösen aufrichten, aus dem Elend, das immer noch im reichen Europa herrscht, wo man das Wort „Gerechtigkeit“ vergessen hat, aus dem Elend im Süden der Welt, aus der verbreiteten Gewalt, aus dem Krieg...

Spirituelle Männer und Frauen verzichten nicht darauf, die Welt aufzurichten. Wirtschaftsprognosen sind nicht ausreichend, um die Zukunft zu deuten. Wir haben genug von Ideologien; wir haben genug von einem Christentum, das auf eine Ideologie beschränkt wird. In diesem Europa, das arm an Visionen für die Zukunft ist, wird ein Leben gebraucht, das von Glauben und Liebe überfließt. Der Apostel Paulus spricht zu den Korinthern über den Eckstein des christlichen Lebens: „Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5,14-15).

Unser Vorschlag für Europa besteht darin, nicht mehr für sich zu leben. Das Wort Gottes macht einen Vorschlag, der uns und die europäische Kultur beunruhigt. Die Lebenden sollen nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für uns starb und auferweckt wurde! Die Christen müssen sich von der Angst und vom unersättlichen Geiz befreien, welche Gründe es dafür auch geben mag. Denn sie führen dazu, dass wir für uns leben und machtlos und verschlossen sind, dass wir in kleinlichen Familienstreitigkeiten gefangen sind und in einer Gegenwart leben, die reich an Wohlstand und Frieden ist, sich jedoch nicht um die Menschen außerhalb Europas sorgt, die weder Frieden noch ein würdiges Leben besitzen. Werden wir die Kultur und die Praxis von Ländern und Gemeinschaften in Frage stellen können, die für sich leben? Sind wir in der Lage, eine attraktive Freude von endlich wahrhaftigen Männern und Frauen auszustrahlen? Der berühmte jüdische Lehrer Hillel sagte: „Wenn du unter Umständen lebst, in denen es an Menschen fehlt, bemühe dich, Mensch zu sein“. Bemühe dich, Mensch zu sein, menschlich! Auf diese Weise stellt man die politische Korrektheit eines Lebens, das für sich gelebt wird, in Frage, und auch die Festung Europa, sowie die egoistische Kurzsichtigkeit der europäischen Länder, die in sich verschlossen sind.

Wie können wir Europa helfen, nicht für sich zu leben? Das ist die Fähigkeit, der Versuchung des Nationalismus zu widerstehen. Der bekannte Europäer und Christ, Olivier Clément, bemerkte schon 1968 bei seinem Dialog mit Patriarch Athenagoras einen beginnenden Globalisierungsprozess: „Auf der einen Seite das Auftauchen des planetarischen Menschen in einer Geschichte, die zur Weltgeschichte wird, auf der anderen Seite klammert sich jedes Volk an seine Originalität“. Der Patriarch, ein Vater der Ökumene im 20. Jahrhundert, antwortete: „Wir Christen müssen an der Nahtstelle dieser beiden Bewegungen stehen und versuchen, eine Angleichung herzustellen... Schwesterkirchen, Brudervölker, das müsste unser Beispiel und unsere Botschaft sein“. Wenn man nicht für sich lebt, befindet man sich an der Nahtstelle und findet den Punkt eines friedlichen Gleichgewichts zwischen der globalen Vereinigung und den zunehmenden Partikularismen. Man erinnert die europäischen Staaten daran, dass sie nicht nur für eine nationale Zukunft leben dürfen, der Einigungsprozess muss fortgesetzt werden. Heute hat man Angst, etwas zu verlieren; doch morgen werden sich die europäischen Staaten verlieren und allein bleiben. Und die europäische Einigung ist keine bürokratische Angelegenheit oder ein Prozess ohne Seele und Leidenschaft.

Christen, die geschwisterlicher leben, und das ist die Ökumene, müssen die Seele für die europäischen Völker sein, damit sie in größerer Einheit leben. Es gibt viele Skeptiker, was die Ökumene betrifft. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Doch die Einheit der Christen ist ein Gebot des Herrn. Darf man das Liebesgebot unbeachtet lassen, wenn sich die Menschen heute noch hassen? Wir brauchen einander. Die Ökumene ist ein Austausch von Gaben. Als Christ aus dem Westen kann ich sagen, dass wir im Westen durch die Verbreitung der Ikonen viel geschenkt bekommen haben und dass wir von der Liturgie und Spiritualität des Ostens viel geschenkt bekommen können. Der Friede und die Einheit unter den Christen ist in tiefer und geheimnisvoller Weise mit dem Frieden und der Einheit der Welt verbunden.

Wenn ich in der Welt unterwegs bin, stoße ich auf Erwartungen, die an Europa gerichtet sind. Ist das nicht eine Berufung? Zweimal ist im 20. Jahrhundert der europäische Krieg zum Weltkrieg geworden. Der europäische Friede kann in der Welt ansteckend sein. In der allgemeinen Mentalität von heute wird der Krieg als Mittel zur Lösung der Probleme rehabilitiert. Man nimmt hin, dass er ein natürlicher Begleiter der Geschichte ist. Wenn man den Terrorismus anschaut, können wenige Krieg führen und Leid über viele bringen. Durch die Verbreitung vieler Waffen wird die Gewalt oft zur Begleiterin des Lebens in einer Welt, in der zum ersten Mal in der Geschichte in diesem Jahr 2007 die Bevölkerung in den Städten die Landbevölkerung übersteigt. Krieg und Gewalt sind Ausdrucksformen des Bösen!

Die europäischen Christen haben eine Verantwortung für den Frieden in der Welt. Diese Sendung ist auch mit den Gütern unseres Kontinents möglich. Die Kriegsdämonen können besiegt werden. Die Christen haben eine Friedenskraft. Das sage ich aufgrund der Erfahrung der Gemeinschaft Sant’Egidio in Afrika, die zum Beispiel den Frieden in Mosambik verwirklichen konnte, nach einem Krieg, der eine Million Todesopfer gefordert hatte. Heute können alle für den Frieden arbeiten, nicht nur die großen Staaten. Muss Europa nicht zum Urheber des Friedens in der Welt werden, nachdem es mit seinen Konflikten zum Urheber von zwei Weltkriegen geworden ist? Es liegt in der Hand von uns Christen, diese Forderung an unsere Regierungen zu stellen. Es liegt auch an uns, unsere Vollmacht zu entdecken, die Völker vom Übel des Kriegs zu befreien. Diese schreckliche Krankheit kann Heilung finden.

Wenn Europa nicht für sich lebt, wird es Afrika nicht vergessen. In Rumänien könnte Afrika weit weg erscheinen. Doch seine Zukunft ist mit Europa verbunden. Heute ist Afrika ein Kontinent voller Leiden, Krankheiten und Gewalt, doch es ist auch ein Gebiet, wo eine neue Expansion von China aus vor sich geht und Kapitalismus und autoritäre Strukturen mit sich bringt. Große Europäer haben darauf hingewiesen, dass Europa und Afrika ein gemeinsames Schicksal besitzen. Ich denke an Albert Schweitzer, der Theologe, Exeget und auch Arzt war und einen großen Teil seines Lebens für die Kranken in Afrika eingesetzt hat. Heute beunruhigen uns die dreißig Millionen HIV-Positiven, von denen die meisten aufgrund der hohen Kosten für die Medikamente keine Behandlung bekommen können, während in ganz Europa AIDS mittlerweile behandelt wird. Das ist eine Schande für Europa, das fern davon in Freuden lebt und prasst, während Lazarus vor seiner Tür stirbt. Er stirbt an der Krankheit. Er verhungert und verdurstet. Eine Milliarde Menschen unserer Erde haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, was dazu führt, dass 1.800.000 Kinder pro Jahr an Darmerkrankungen sterben.

Die Gerechtigkeit muss ein Bestandteil unserer Prophetie sein. Man hat die biblische Tiefe der Bedeutung dieses Wortes verloren, nachdem es so oft politisch gebraucht wurde. Doch Jesus verwendet es in den Seligpreisungen und blickt dabei mit Liebe auf alle, die danach dürsten. Die Gerechtigkeit muss die Wirtschaftspolitik unserer Länder in Frage stellen, wo es zu viele Arme gibt. Sie muss die Wirtschaftsbeziehungen zwischen uns und der Welt und Afrika in Frage stellen. Ja, man muss über Afrika im Zusammenhang mit Europa nachdenken, denn dort steht die Moral der internationalen Politik auf dem Spiel.

Paul VI., ein großer Papst, schrieb vor vierzig Jahren: „Es muss ein weltweiter Humanismus aufgebaut werden“. Und weiter: „Die Welt ist krank. Das Übel ist nicht so sehr die Vergeudung ihrer Güter oder das Anhäufen dieser Güter durch einige wenige, sondern das Fehlen von Geschwisterlichkeit unter den Menschen und Völkern“. Unser Impuls als Gläubige besteht darin, dass Europa seinen Platz in der Welt wiederfinden kann, indem es für einen weltweiten Humanismus arbeitet. Deshalb müssen wir Ausdauer haben und gleichzeitig gläubig sein und geschwisterlich leben.

Die Christen im Westen haben eine Geschichte der Liebe zum Süden der Welt, die wieder mit Leben erfüllt werden muss. Die Christen im Osten haben eine Geschichte zum Osten und zum Nahen Osten hin, ich denke an die Christen aus Russland, die auch im Herzen von Asien leben. Die Geschichte zeigt, dass die christlichen Gemeinschaften sich ausdauernd dafür engagieren können, die Geschwisterlichkeit zwischen den Völkern und Europa und darüber hinaus neu erstehen zu lassen. Hat Europa heute nicht die Möglichkeit, für die Geschwisterlichkeit unter den Völkern einzutreten? Haben die europäischen Christen nicht die Verantwortung, diesen Weg zu gehen?

Das Leben der spirituellen Frauen und Männer in Europa kann einen weltweiten Humanismus, sowie Friedens- und Solidaritätsinitiativen hervorbringen; mit ihrer Weisheit können sie über die Welt meditieren und aufzeigen, dass sie diese als ein gemeinsames Haus für die Völker und Menschen ansehen. Die Auswirkungen des Klimawandels werden mittlerweile von allen wahrgenommen und beweisen, dass die Erde ein gemeinsames Haus ist. Das wird auch durch das Drama der Ausbeutung der natürlichen Güter bestätigt, die schon heute 25% der Regenerationsfähigkeit der Erde übersteigt. Das Schicksal der Völker ist immer mehr untereinander verbunden wie in einem gemeinsamen Haus. Diese umfassende Vision hatten schon die Väter.

1989 hat der ökumenische Patriarch den 1. September, den Beginn des Kirchenjahres, zum Fest der Schöpfung ernannt, damit die Christen der Schöpfung, die in Geburtswehen liegt, Gehör verschaffen. An diesem Tag begann im Jahr 1939 auch der Zweite Weltkrieg, als Polen von der nationalsozialistischen Armee besetzt wurde und Europa in den Abgrund hinabstieg. Wir nehmen die Leiden der Schöpfung und den Krieg, der Vater vieler Leiden und großen Elends ist, mit in das Gebet und die Liturgie hinein. Eine Kirche, die auf das Wort Gottes hört, die betet und die zerbrochene Einheit wiederaufbaut, schaut mit neuen Augen auf die Welt und spürt die Verantwortung der Liebe, die zur Sendung wird und zu einem Leben, das nicht für sich gelebt wird. Dadurch entsteht ein Humanismus, der sich auf den ganzen Planeten ausdehnen kann. Heute ist Europa nicht wie früher. Es kann besser werden, als es für sich und für die anderen war.

Wir können die Welt aufrichten, wir können die Völker und Menschen von der Sklaverei des Kriegs und der Armut und von der Gefangenschaft eines Lebens für sich befreien, wenn wir unser Herz für das Evangelium öffnen, wenn wir im Gebet mit der Kirche vereint sind, wenn wir unsere Schwestern und Brüder mit Liebe anschauen. Der Heilige Serafin von Sarov lehrte voller Weisheit: „Erwirb dir den inneren Frieden, und Tausende um dich herum werden das Heil finden“. Der Weg des Herzens und der Weg der Liebe, die Frieden stiftet, die heilt und auferstehen lässt, sind ein und derselbe demütige und starke Weg. Der Weg von Christen, von einem christlichen Volk, das vom gekreuzigten Herrn lernt, nicht für sich zu leben.

Andrea Riccardi