Aachen 2003

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Montag, 8. September 2003 - Eurogress
Identit�t und Werte im Europa der Zukunft

  
  

P�ter Erdo
Katholischer Erzbischof von Estzergom, Primas von Ungarn
  

Ich bedanke mich herzlich f�r die Einladung zu diesem internationalen Treffen. Was das interessante Thema anbelangt, m�chte ich zuerst einige Grundbegriffe kl�ren, dann die Frage untersuchen, wieweit die sogenannten Werte an sich, ohne weitere Grundlagen, vertretbar sind und im Verhalten der Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft zur Geltung kommen k�nnen. Aus der Antwort auf diese Frage ergibt sich dann der Auftrag und die Sendung der Kirche in diesem Zusammenhang.

1. �ber welches Europa sprechen wir?

Schon der Begriff Europa ist eine eher kulturgeschichtliche, als geographische Kategorie. Ebenso ist es im Fall von Ost- und Westeuropa. Dies war zwar f�r die Einwohner der mitteleurop�ischen L�nder, wie �sterreich oder Ungarn, schon immer klar, zeigt sich aber seit der politischen Wende von 1989 auch vor der gro�en internationalen �ffentlichkeit immer deutlicher. Die k�nstlich gezogene milit�rische und politische Grenze zwischen den zwei Bl�cken war nie mit der kulturellen Grenze zwischen Ost- und Westeuropa identisch. Kulturgeschichtlich gesehen - und dies bleibt heute das einzige Kriterium - gibt es einen Teil unseres Kontinentes mit lateinischer Kultur und einen anderen mit griechisch-byzantinischer Kultur und Tradition. Deshalb gab es schon seit der Christianisierung dieser V�lker eine Reihe von L�ndern, zwischen dem Baltikum und der adriatischen K�ste, die organisch zum Westen geh�rten und �stlich vom Deutsch-R�mischen Reich lagen. Einige ehemalige Ostblockl�nder (wie Tschechien und Slowenien) haben sogar zu diesem Reich geh�rt. Die B�rger dieser L�nder haben sich immer als Westeurop�er gef�hlt und f�r ihre eigene Subregion die Benennung Ost-Mitteleuropa verwendet.

Diese Unterscheidung zwischen Osteuropa und dem �stlichen Teil von Westeuropa ist f�r die psychologische und emotionelle Einstellung der Bev�lkerung betreffend des Eintritts der einzelnen L�nder in die Europ�ische Union von entscheidender Bedeutung.

Aus dem Gesagten kommt klar hervor, da� Europa im Zusammenhang von Werten nur als eine kulturelle und nicht als eine rein politische Gr��e aufzufassen ist. Dennoch ist in den letzten Jahren eine sehr gef�hrliche Tendenz zu beobachten, n�mlich die Verwendung des Wortes Europa f�r die Bezeichnung der Europ�ischen Union als politische Realit�t. So wird ja die alte und reiche kulturelle Bedeutung dieses sch�nen Wortes auf einen engen Staatenverband reduziert, zu dem viele europ�ische L�nder, die f�r die geschichtliche und kulturelle Identit�t Europas konstitutiv sind, entweder gn�digerweise zugelassen oder einfach nicht zugelassen werden. Die Entscheidung dar�ber liegt bei verschiedenen Organen dieser politischen und wirtschaftlichen Union, die den Namen Europa f�r sich beansprucht.

Die menschlichen Werte kommen - wie bekannt - nicht vom Staat und lassen sich nicht verstaatlichen oder durch den Staat beschr�nken. Sie richten sich nicht nach den Staatsgrenzen. Eine Staatsideologie und ein System der offiziell deklarierten Werte wurde z. B. in den kommunistischen L�ndern schon ausprobiert und hat sich als v�llig erfolglos erwiesen. Darum ist ein B�rger eines ehemaligen Ostblocklandes den offiziellen Werten der Europ�ischen Union gegen�ber ein klein bi�chen skeptisch.

2. Werte, Wertebewu�tsein und praktische Durchsetzung der Werte - eine moralische, kulturelle, soziologische und rechtliche Frage

Die menschlichen Werte haben mit dem Gewissen des Menschen, oder, wenn man will, mit seinem Wissen �ber Gut und B�se zu tun. Das moralische Bewu�tsein ist von der Weltanschauung untrennbar. Mit dieser Feststellung sind wir schon im Bereich der Kultur und sogar der Religion. Dies ist die Ursache, warum nicht ein Staat f�r solche Werte konstitutiv sein kann und warum er die Werte im Herzen der Mitglieder der Gesellschaft zu suchen hat.

Es ist andererseits eine bekannte soziologische Tatsache, da� das Wertebewu�tsein der Mehrheit einer Gesellschaft noch nicht bedeutet, da� die Mehrheit der Menschen das eigene Leben tats�chlich nach diesen Werten ausrichtet. Es wird auch weitgehend angenommen, da� der Staat die Aufgabe hat, das Gemeinwohl so gut wie m�glich zu sichern. Was aber das Gemeinwohl ist, was f�r den Menschen individuell und gemeinschaftlich gut ist, kann nur aufgrund einer Weltanschauung entschieden werden. Daher - trotz aller gerechten Neutralit�t des Staates - k�nnen Staat und Kultur, Staat und Religion institutionell zwar voneinander getrennt werden, wahr bleibt aber, da� sich der Staat auf die Gesellschaft st�tzt und sich von ihr ableitet. Und es ist eben die Gesellschaft, die von der Kultur, von der Weltanschauung und von der Religion - oder von den Religionen - nicht trennbar ist. Die Gewissens- und Religionsfreiheit sind zwar grundlegende Erfordernisse den heutigen Staaten gegen�ber, dies bedeuet aber gar nicht, da� alle Religionen, alle Weltanschauungen gleichwertig sind. Die Grundlage der Gewissens- und Religionsfreiheit ist nicht etwa der Gedanke, da� alle Religionen nur subjektive �berzeugungen sind und keine objektive Wahrheit enthalten, also nicht eine Absage von der M�glichkeit der objektiven Wahrheit, sondern eben das Gegenteil davon. Am treffendsten wird dies in der Konzilserkl�rung "Dignitatis humanae" �ber die Religionsfreiheit ausgedr�ckt. Es ist die W�rde der menschlichen Person, die erfordert, da� man die objektive Wahrheit �ber Gott und den Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erl�st und selig werden k�nnen, frei und ohne �u�erem Zwang suchen kann. "Diese einzige wahre Religion - so lehrt das II. Vatikanische Konzil - ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten" (DH 1b). "Alle Menschen sind ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren" (ebd.). Die grundlegende rechtliche M�glichkeit des weltanschaulichen Pluralismus in den modernen Staaten ist also nicht die Vielfalt der Wertlosigkeit und des grenzenlosen Subjektivismus, sondern die M�glichkeit f�r die mit Vernunft und freiem Willen beschenkte menschliche Person, die objektive Wahrheit �ber Gott und Mensch, �ber Gut und B�se seiner W�rde gem�� zu suchen. Die Existenz der objektiven Wahrheit in diesen Fragen ist also nicht das Gegenteil, sondern die einzige echte Grundlage der Religionsfreiheit.

Wenn wir also als Christen �ber Werte sprechen, so sprechen wir nicht �ber Meinungen der jeweiligen Mehrheit, die sich nach der Mode schnell �ndern k�nnen, sondern �ber objektive Dinge und Erfordernisse, die in der Ordnung der Sch�pfung und der Erl�sung tief begr�ndet sind.

3. Die Anerkennung objektiver moralischer Werte in den Gesellschaften Europas und der EU

Seit der Zeit der Aufkl�rung sind in den verschiedenen europ�ischen L�ndern Verfassungen erschienen, die das Welt- und Menschenbild der damaligen aufgekl�rten Naturrechtslehre widerspiegeln. Diese Naturrechtslehre war noch stark vom kulturellen Einflu� des Christentums und des Judentums stark beeinflu�t, war aber an keine konkrete Religion gebunden.

Die in den Verfassungen festgelegten Grundrechte und die mit ihnen verbundenen Werte haben aber im XX. Jahrhundert stufenweise ihre weltanschaulichen Grundlagen verloren. So stellt man die Begriffe des Schutzes des menschlichen Lebens, der Menschenw�rde, der Ehe, der Familie, des Eigentums, der Br�derlichkeit, beziehungsweise der Solidarit�t, der �ffentlichen Ordnung oder der Moralit�t immer mehr in Frage. Wann und vor allem warum ist das menschliche Leben mit staatlichen Zwangsmitteln zu sch�tzen? Ist jedes menschliche Leben mehr zu sch�tzen, als das Leben von bestimmten Tieren? Wer soll dar�ber entscheiden? Solche Fragen stellen sich heutzutage immer �fter und zeigen die wachsende Entfernung der staatlich-rechtlich gesch�tzten Werte von den Werten der aufgekl�rten Naturrechtslehre und besonders von den Werten, die sich aus der christlichen Religion ableiten. Darum hat eine leitende Pers�nlichkeit der Weltkirche vor kurzem festgestellt, da� der Laizismus, beziehungsweise die Kirchenfeindlichkeit nicht der Grund des neuen Europa sein kann. Unter dem Stichwort Toleranz sollten nicht ganz andere Bestrebungen durchgesetzt werden.

Es ist merkw�rdig, da� manche Werte in der Grundrechtscharta der EU ganz fein und detailliert ausgearbeitet vorkommen. So werden die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, die Unternehmerfreiheit, der Schutz des geistigen Eigentums oder sogar das Recht auf eine gute Verwaltung erw�hnt. Dies ist sonst auch in den modernen europ�ischen staatlichen Gesetzgebungen der Fall. Man begegnet sogar in verschiedenen ehemaligen Ostblockl�ndern dem Ombudsman des Datenschutzes oder dem Ombudsman der Rechte der Studenten usw., w�hrend andere eher elementare Garantien des normalen menschlichen Zusammenlebens noch gar nicht so gut rechtlich ausgearbeitet sind. Darum sind einige Beobachter, aber auch manche B�rger der Ansicht, da� die offenkundige Spannung zwischen �berfeinerten Detailnormen und groben L�cken in der Anerkennung und im rechtlichen Schutz der Werte schon ein Zeichen der kulturellen und gesellschaftlichen Dekadenz ist.

4. Aufgaben der Kirche(n)

Johannes Paul II. betont wiederholt, da� Europa nicht nur eine wirtschaftliche, sondern haupts�chlich eine kulturelle und geistliche Realit�t ist. In diesem Sinne kann Europa gar nicht nur die Europ�ische Union als politische Gr��e bedeuten. Die EU kann keine eigenen und spezifischen Werte haben. Die Werte - soweit ihre Erkenntnis kulturell bedingt ist - k�nnen nur die Werte der j�disch-christlich verwurzelten "europ�ischen", beziehungsweise westlichen Kultur sein, die in ganz Europa, aber auch in Nord-, Mittel- und S�damerika, oder in ganz Russland, Australien und anderswo lebendig sind. Wenn wir unsere Hoffnung aus der Person Christi sch�pfen, dann m�ssen wir sogar sagen, da� eben diese Werte universal zu vertreten sind und die Hoffnung f�r alle Menschen bedeuten. Nat�rlich mu� Europa auch kulturell mit zwei Lungen atmen. Auch die byzantinische Form der christlichen Erbschaft ist ein reicher Bestandteil dessen, was man auch in der EU als Werte anerkennen und wirksam sch�tzen soll.

Wenn die Werte von ihrem Wesen her nicht EU-spezifisch sein k�nnen, dann stellt sich die Frage, ob und welche Besonderheiten die EU im Bereich dieser Werte haben kann. Sie k�nnen meiner Meinung nach einerseits in der Formulierung dieser Werte bestehen, andererseits in ihrem rechtlichen Schutz. Und dies ist der Bereich, wo die Christen, Bischofskonferenzen und m�ndige Laien die wichtigsten Aufgaben haben.

Eine dieser technischen L�sungen k�nnte die pr�zisere Ausarbeitung der k�nftigen EU-Verfassung sein. Ob die Religion dort tats�chlich erw�hnt wird und wie weit eine solche Erw�hnung praktisch n�tzlich sein wird, kann man nicht vorhersagen. Eine interessante L�sung hat man aber in einem der EU Kandidatenl�nder, n�mlich in Ungarn gefunden. In der Pr�ambel des Gesetzes Nr. IV vom Jahre 1990 �ber die Gewissens- und Religionsfreiheit und �ber die Kirchen wird festgestellt, da� die Religionsgemeinschaften werttragende Kr�fte der Gesellschaft sind. Der Gesetzgeber hat diese Behauptung wahrscheinlich nicht in ihrer ganzen Tiefe durchgedacht. Es ist aber tats�chlich so: die moralischen Werte einer Gesellschaft sind auf eine Weltanschauung, meistens direkt auf die Religion gebaut. Die EU als politische Gr��e kann aus verschiedenen Bausteinen keine eigene offizielle Weltanschauung aufbauen. Sie mu� - der gesellschaftlichen Realit�t ihrer V�lker entsprechend - von den Religionsgemeinschaften institutionell getrennt sein, aber sie kann in vielen moralischen Wertfragen auf diese Gemeinschaften verweisen, mit ihnen zusammenarbeiten oder die gesellschaftliche Wirkung ihrer gewissensbildenden T�tigkeit ber�cksichtigen.

Der gr��te Beitrag der Kirche zur Entstehung einer Wertegemeinschaft in der EU ist also die Wahrnehmung ihres vom auferstandenen Herrn erhaltenen Missionsauftrags.

 

 

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