Aachen 2003

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Montag, 8. September 2003 - Eurogress
Identit�t und Werte im Europa der Zukunft

  
  

Joachim Meisner
Katholischer Erzbischof von K�ln, Deutschland
  

Sehr geehrte Damen und Herren!

In Europa ist Gott weithin abhanden gekommen. Da unsere Zivilisation und Kultur in Europa nur vom Evangelium und vom Dasein der Kirche her verstehbar ist, macht sich dieser Entgottungsvorgang, d.h. S�kularisationsprozess auf allen Ebenen des Lebens innerhalb und au�erhalb der Kirche schmerzlich deutlich.

Sichtbar wird dies besonders an einem allenthalben festzustellenden Werteverfall. Denn alle humanistischen Werte, die unser Europa gepr�gt haben, sind bei n�herer Analyse typisch christliche Werte. Der europ�ische Humanismus ist heute jedoch kaum mehr in einer christlichen Sicht der Welt begr�ndet, wo Gott der Sch�pfer und h�chste Garant dieser eben genannten Werte und Normen ist. Es fehlt in der europ�ischen Gegenwart der Bezugspunkt, den das Absolute - n�mlich Gott - f�r diese Werte darstellt. Wenn nun aber die humanististischen Werte und Ideen Europas auf sich selbst gestellt sind und nicht mehr um diesen gemeinsamen Bezugspunkt, um diese Verbindung mit dem transzendenten Absoluten wissen, dann ist dies nicht einfach nur bedauerlich, sondern h�chst gef�hrlich. Sie scheiden dann n�mlich gleichsam auf nat�rliche Weise giftige Stoffe aus, die langsam das lebendige Gewebe unseres christlichen Abendlandes verseuchen und vergiften und schlie�lich zerst�ren, so dass die abendl�ndische Gesellschaftsordnung kollabieren muss. Hier gilt das biblische Wort: "Wer nicht f�r mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut" (Mt 12,30). Die Entkoppelung der Werte von dem transzendenten Bezugspunkt, von Gott, ist nicht eine neutrale Erscheinung, sondern eine Bedrohung. Unsere europ�ische Gegenwart tr�gt darum auf vielf�ltige Weise solche Todeskeime in sich, die den gesunden Organismus vergiften, ja zum Kollabieren kommen lassen. Man sollte sich nicht beeindrucken lassen von dem Wort: "Du bist ein Kulturpessimist". "Die Wahrheit wird euch freimachen" (Joh 8,32), sagt die Heilige Schrift. Darum m�ssen wir uns der Analyse der Gegenwart stellen, wie sie nun einmal ist. Ich m�chte f�r diese These ein Beispiel anf�hren: die Drogensucht.

Das Drogenproblem ist ein Ph�nomen der Neuzeit. In dem Augenblick, in dem Lenin die Religion als "Opium f�r das Volk" diffamierte, griffen die Menschen zur Droge. Die Versuchung zur Droge ist z.B. aus dem Mittelalter nirgendwo berichtet, weil damals der Durst der menschlichen Seele, des inneren Menschen, eine Antwort fand, die die Droge er�brigte. Im Drogenproblem wird der Protest gegen ein Dasein deutlich, das "als Gef�ngnis empfunden wird. "Die gro�e Reise", die die Menschen in der Droge verscuhen, ist die Pervertierungsform der Mystik, die Pervertierung des menschlichen Unendlichkeitsbed�rfnisses, das Nein zur Un�bersteigbarkeit der Immanenz und der Versuch, die Grenzen des eigenen Daseins ins Unendliche hinein zu entschr�nken. Das geduldige und dem�tige Abenteuer der Askese, die sich in kleinen Schritten des Aufstiegs dem absteigenden Gott n�hert, wird durch die magische Macht der Droge ersetzt, der sittliche und religi�se Weg durch die Technik der Gef�hle. Die Droge ist so die Pseudomystik einer Welt, die nicht glaubt, aber dennoch den Drang der Seele nach dem Unendlichen nicht absch�tteln kann. Insofern ist die Droge ein Warnzeichen: Sie deckt nicht nur ein Vakuum in unserer Gesellschaft auf, dem ihre Instrumente nicht abhelfen k�nnen; sie verweist auf den inneren Anspruch des menschlichen Wesens, der sich in pervertierter Form zur Geltung bringt, wenn er die rechte Antwort nicht findet.

Unsere Frage lautet deshalb: Kann der europ�ische Mensch aus eigener Kraft all diese Gifte ausschwitzen oder �berwinden? Oder kann man berechtigterweise nur dann auf eine Tiefenheilung hoffen, wenn die europ�ischen Werte wieder ihre Quelle finden, ihren gemeinsamen Bezugspunkt: das transzendentale Absolute, das wir Gott nennen?

Christus wird in der Christologie als "ecce Deus" und "ecce homo" definiert. Unsere europ�ische Anthropologie ist darum christologisch in der dogmatischen Formel von Chalcedon verwurzelt, wo das Konzil erkl�rt: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Das Dogma betont damit die enge Verwandtschaft zwischen dem G�ttlichen und dem Menschlichen, ihre wesensgem��e �bereinstimmung, die es dem g�ttlichen Wort erm�glicht, die Hypostase der menschlichen Natur zu werden. Deswegen sagt z.B. Romano Guardini in seinem ber�hmten Vortrag auf dem ersten Berliner Katholikentag im Jahre 1958: "Nur wer Gott kennt, kennt auch den Menschen." Die Gott�hnlichkeit des Menschen, der ja nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, vollendet sich in der Menschwerdung Gottes. Nirgends ist der Mensch in seiner W�rde deshalb h�her definiert als im Christentum. Die orthodoxen Kirchen haben sogar den Mut von der Gottwerdung des Menschen durch die Menschwerdung Gottes zu sprechen. So wie ein Spiegel keinen nicht-existierenden Gegenstand widerzuspiegeln vermag, so w�re in der Tat die menschliche Person in ihrem Durst nach dem Absoluten und dem Unendlichen ohne einen absoluten Archetyp unerkl�rlich.

Was haben wir dabei zu tun? Nicht den Glauben auf das rein Religi�se zu reduzieren - das ist immer unkatholisch -, sondern - um das biblische Bild von Salz zu verwenden -, ihn (den Glauben) in die irdischen Wirklichkeiten hineinmengen, ohne ihn zu vermischen. So wie Gottheit und Menschheit in Jesus Christus unvermischt sind, so m�ssen wir den Glauben hineinmengen in unsere Gesellschaft, ohne ihn zu vermischen.

Der Wille zu einer rein religi�sen Verwirklichung des Evangeliums unter Ausklammerung des politischen, sozialen und kulturellen Raumes wird nicht der weltlichen Verantwortung des Glaubens gerecht. Echte Glaubenspraxis, d.h. richtiges Handeln, geht aus der Wahrheit hervor und um die muss gerungen werden. Wir sagen: Alle Theorie ist grau. Praxis ohne Theorie ist greulich. Es muss um die Wahrheit gerungen werden. Es soll weniger dabei um unmittelbare Wirkung gehen. Wir sollen einfach die Wahrheit zum Leuchten bringen. Die Wahrheit ist eine Macht; aber nur dann, wenn man von ihr keine unmittelbare Wirkung verlangt."

Hier liegt im Hinblick auf den sogenannten Reevangelisierungsprozess die Aufgabe der Kirche in der Gegenwart. Die Kirche sollte deshalb zun�chst einmal wirklich sie selbst sein. Sie darf sich nicht einfach zu einem blo�en Mittel der Moralisierung oder Ethisierung der Gesellschaft, wie sich das heute viele w�nschen, instrumentalisieren lassen Ganz besonders darf sich die Kirche nicht selbst durch die N�tzlichkeit ihrer Sozialwerke rechtfertigen wollen. Je intensiver die Kirche das, was ihr gleichsam zus�tzlich hinzugegeben worden ist, anzielt, desto mehr wird sie gerade darin versagen. Wir haben, so meine ich, daf�r ausreichend Anschauungsmaterial. Je mehr sich die Kirche vor allem als Institut sozialen Fortschritts definiert, desto mehr trocknen die sozialen Berufungen aus, die Berufe des Dienens f�r Alte, Kranke und Kinder, die doch in Bl�te standen, als der Blick der Kirche noch wesentlich auf Gott ausgerichtet war. Aus Erfahrung erkennen wir die Richtigkeit des Herrenwortes: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben" (Mt 6, 33). Suchen wir jedoch zuerst das Dazugegebene, bekommen wir es doch nicht und verlieren schlie�lich auch noch das Reich Gottes.

So also kann man die Kirche und die Kirche die Welt nicht retten. Vielmehr muss sie ihr Ureigenes tun, den Auftrag erf�llen, auf dem ihre Identit�t gr�ndet: Gott verk�nden und sein Reich bekanntmachen! Gerade und nur so entsteht der geistige Raum, in dem das Moralische und Ethische seine Existenz zur�ckgewinnen kann, und zwar weit �ber den Kreis der Glaubenden hinaus. Ihre Verantwortung f�r die Gesellschaft muss die Kirche in dem Sinne wahrnehmen, dass sie das G�ttliche und das daraus folgende Moralische einsichtig werden l��t. Sie muss �berzeugen. Indem sie �berzeugung schafft, �ffnet sie den Raum f�r das, was ihr anvertraut ist und immer nur �ber Verstand, Wille und Gef�hl zug�nglich gemacht werden kann. Die Kirche muss dabei leidensbereit sein; nicht durch institutionelle St�rke, sondern durch Zeugnis, durch Liebe, Leben und Leiden muss sie dem G�ttlichen den Raum bereiten und so der Gesellschaft helfen, ihre moralische Identit�t zu finden.

 

 

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