Dienstag, 7. September 2004
Universit� Cattolica del Sacro Cuore, Aula Magna
Hohe Lebenserwartung f�r viele: Problem oder Chance?

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Heinrich Mussinghoff
Katholischer Bischof, Deutschland
  

Die Langlebigkeit der Massen: Problem oder Chance? Ich will bezeugen, dass mich die Freundschaft mit alten Menschen sehr bereichert hat.

Da ist meine alte Haush�lterin, 100 Jahre und 3 Monate ist sie alt geworden und "lebenssatt" vor 1� Jahren gestorben. Reich war der Schatz ihrer Erfahrung. In ihrer Jugend kamen die ersten Autos und Flugzeuge auf, Radio und Fernsehen, bis sie im hohen Alter von Faxger�t, Computer und Internet wusste. Zwei Weltkriege hat sie leidvoll miterlebt, zwei Br�der sind gefallen. Nachkriegszeit, Wiederaufbau, Zweites Vatikanisches Konzil. Sie hat in M�nster zwei Domvikare, beide mit Namen Heinrich, zu Bisch�fen erzogen. Sie hat wach das Leben in Kirche und Gesellschaft verfolgt. Sie war ein froher und frommer Mensch. Wir hatten viel Freude miteinander.

Als ich in Trastevere/Rom ein Altenheim der Comunit� di Sant'Egidio besuchte und Don Ambrogio mich als Bischof von Aachen vorstellte, sagte eine alte Dame mit W�rde: "Ed io sono Serafina." Wir haben uns nett unterhalten.

Beim Besuch in einem Kindergarten unseres Bistums traf ich die Kinder traurig vor. Die "M�rchenoma" vom Altersheim nebenan war gestorben. Sie hatten sich angefreundet und warteten immer schon gespannt auf neue und alte Geschichten, die ihnen ihre "M�rchenoma" erz�hlte.

Es g�be viele Geschichten zu erz�hlen von der Lebensqualit�t, die das Alter haben kann. Ich liebe alte Menschen mit ihrem Schatz an Erfahrung, mit ihrer Treue zum Gebet, mit ihrer Liebe zu den jungen Menschen.

In vielen alten Kulturen galten und gelten alte Menschen als verehrungsw�rdig wegen ihrer Weisheit. Im Alten Testament erreichten die Stammv�ter und Erzv�ter ein fast astronomisches Alter. Adam wurde 930 Jahre alt, Methusalem gar 969 Jahre und Abraham wenigstens 175 Jahre. Der 71. Psalm, das Gebet eines alten Menschen, sagt:

"Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf.

Und noch heute verk�nde ich dein wunderbares Walten.

Auch wenn ich alt bin und grau, verlass mich nicht"

(Ps 71, 17 f.).

Die Langlebigkeit der Massen: Problem oder Chance? In der Tat ist es ein Massenph�nomen geworden, dass die Menschen heute immer �lter werden. Gute Medizin, ausreichende Ern�hrung, sorgsame Hygiene haben dazu gef�hrt, dass die Lebenserwartung der Menschen sich erh�ht hat und noch weiter w�chst. In Europa sind 80 Jahre die Lebenserwartung der Frauen, 73 Jahre der M�nner.

Ein beachtlicher Fortschritt, an dem Wissenschaftler kontinuierlich gearbeitet haben. Ein Hundertj�hriger, eine Hundertj�hrige sind heute keine Seltenheit mehr. Wir sollten uns freuen, dass unser Leben so lange w�hrt. Es ist eine Gabe Gottes, dass er unsere Lebenserwartung verl�ngert hat. Wir Menschen sollten dankbar sein f�r diesen Fortschritt.

In unseren Gesellschaften werden die alten Menschen eher als Problem angesehen. Sie haben vor allem in der Stadt ihren Ort verloren. In den Familien ist kein Platz f�r sie. So leben sie am Rande der Gesellschaft, in Altenheimen und Asylen, vereinsamt und alleingelassen. Weil sie nicht mehr leistungsf�hig sind, werden sie als nutzlos eingesch�tzt. In Europa leben viele auch an der Armutsgrenze. Ihr Wissen ist wirtschaftlich nicht mehr verwertbar, da veraltet und durch technische Neuerungen �berholt. Sie werden immer mehr und kosten immer mehr an Renten und Krankheitskosten. Ihnen stellt sich das Gef�hl ein, dass sie eine Belastung der Gesellschaft sind. Die Diskussion, ob einem 75-J�hrigen noch bestimmte Gesundheitsleistungen zustehen oder ob noch eine Operation durchgef�hrt wird, ob ein Herzschrittmacher noch eingepflanzt oder eine Magensonde zwecks Ern�hrung und Fl�ssigkeitszufuhr angelegt werden soll, ist in vollem Gange. Sind alte Menschen "lebensunwertes Leben"? Manche alte Menschen sterben den gesellschaftlichen Tod schon vor ihrem physischen Sterben.

Die Niederlande und Belgien haben die Euthanasie eingef�hrt. In ganz Europa wird sie diskutiert, dass unter Beachtung bestimmter Sorgf�ltigkeitskriterien Tod auf Verlangen verabreicht werden kann, die t�dliche Tablette, die Spritze am Ende. Vor allem bei unertr�glichen Schmerzen und aussichtsloser Krankheit wird der Todeswunsch wach, aber bei Alten auch, weil sie an Blicken und Verhalten sp�ren, dass sie unerw�nscht, ja �berfl�ssig sind und st�ren. Dabei kann die Palliativmedizin und Schmerztherapie in 99% der F�lle die Schmerzen nehmen oder doch erheblich lindern. Wo fachliche Pflege und vor allem menschliche Zuwendung geschehen, taucht der Todeswunsch erst gar nicht auf.

Es besteht also ein tiefer Riss zwischen den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts, der uns langes Leben bringt, und der gesellschaftlichen Wertsch�tzung, die alte Menschen an den Rand der Gesellschaft, in die Einsamkeit und in den Tod dr�ngt. Auch der Kollaps unserer Renten- und Gesundheitssysteme wird den alten Menschen, die angeblich zu lange leben, angelastet und nicht denen, die seit Jahren den R�ckgang der Geburtenziffern zu verantworten haben, ohne politisch gegenzusteuern.

Vor 30 Jahren hat die Comunit� di Sant'Egidio die Freundschaft mit den alten Menschen entdeckt. Sie sind eine Bereicherung unseres Lebens, Geschenk Gottes.

Alte Menschen bewahren ein Lebenswissen, das einen gro�en Reichtum darstellt. Ich konnte durch meine 100-j�hrige Haush�lterin mit ihren Erz�hlungen �ber ihre Eltern und Gro�eltern bis weit zur�ck in den Anfang des 18. Jahrhunderts schauen, mit all den Tatsachen, Erinnerungen und Empfindungen. Die Erfahrungen alter Menschen sind heute nicht von wirtschaftlichem Nutzen, sondern von Lebenswert, weil sie von erlebter Geschichte und durchlebter Zeit sprechen.

Alte Menschen sind lebendige Zeugnisse, dass nicht Nutzbarkeit, Wirtschaft und Gewinn die einzigen Werte sind, um die sich diese Welt dreht, sondern dass Leben, Geschichte und Leid, erlittene Schuld und tapferes sowie sch�pferisches Sein hohe Werte an Lebensqualit�t beinhalten. Gerade in ihrer Hilfsbed�rftigkeit und Pflegebed�rftigkeit fordern sie uns heraus, ihnen Samariter und Wirt zu sein, wie uns die lukanische Geschichte vom barmherzigen Samaritan erz�hlt, in dem Christus uns begegnet.

Die alten Menschen bezeugen die Ablehnung von Krieg und Gewalt. Sie haben zwei Weltkriege erlebt mit ihren Schrecknissen, mit ihren Millionen Toten und mit viel seelischem Leid. Sie haben Kriegsgefangenschaft erlebt, mussten Tote beklagen, haben den Verlust von Haus und Heimat erfahren. Sie sind uns Mahner zum Frieden in einer Welt, die immer wieder zu Hass und Gewalt neigt. Ihre Friedenssehnsucht mahnt uns, vor allem die jungen Menschen, gegen Vergeltungsschl�ge, ethnische S�uberungen, Terrorismus und Gewalt anzugehen.

Zwar gilt auch, die Alten sind nicht mehr die Alten, denn auch hier hat sich ein Wandel vollzogen in den konkreten Werten, die sie heute leben, und in der Religiosit�t, die praktiziert wird. Dennoch gibt es eine Spiritualit�t des alten Menschen. Sie stehen oft treu zu Glaube und Kirche, pflegen Gebet und Fr�mmigkeit. Vielen ist der Rosenkranz wert und lieb. Viele beten in den N�ten der Welt und f�r die Anliegen der Kirche. Viele besuchen gern die hl. Messe und den Gottesdienst. Viele, die den Glauben verloren haben, k�nnen durch religi�se Menschen neuen Zugang zu Gott finden. Es gilt, mit den alten Menschen Sinn f�r ihr Leben auch im Alter zu suchen und ihr Leben sinnvoll zu gestalten. "Auf diese Weise wird das Alter nicht als ein Schiffbruch erlebt werden, sondern als eine Ankunft in einem Hafen, wo sie die Liebe Gottes erfahren und selbst weitergeben."

Wenn heute viele Ehen scheitern, Kinder keine Erziehung zu Werthaltungen und Glaubenspraxis in der Familie erhalten, der Konsens in den Grundwerten unserer Gesellschaft sich aufl�st, dann sind es oft die alten Menschen, die uns an tragende Werte des Lebens erinnern, an Glaube und Treue, an Leidensf�higkeit und Freude.

Wo alte Menschen Zuneigung, Freundschaft und Liebe erfahren, bl�hen sie auf. Im Alter gibt es weite R�ume des Lebens. Man muss den alten Menschen helfen, diese zu entdecken. Dies ist m�glich, wenn die Gemeinschaft, in welcher der alte Mensch lebt, ihrerseits das Alter akzeptiert und ihm Bedeutung, Wert und Rechte zuerkennt und den alten Menschen die M�glichkeit gibt, in rechter Weise alt zu werden. Die Kunst zu altern h�ngt nur zum Teil von der Einzelperson ab, im �brigen von dem Umstand, wer um ihn herum ist � die Familie, die Freunde, das soziale Umfeld, die Einrichtungen, die Dienste � sie bieten ihm Lebensbedingungen, die er selbst sich nicht geben kann. Ohne Liebe sterben die Alten. Man muss die Alten lieben, damit die Tugenden des Alters bl�hen und Frucht bringen k�nnen. Und daf�r bin ich, sind alle, die alte Menschen besuchen und betreuen, sind Sie alle verantwortlich. Wenn wir Liebe teilen und mitteilen mit alten Menschen, dann wird sie nicht weniger, sondern mehr. Das ist das Geheimnis wahrer Liebe.

Ich kenne eine Ikone der Hoffnung: Das ist unser Heiliger Vater Papst Johannes Paul II. Je �lter, schw�cher und gebrechlicher er k�rperlich wird, um so st�rker erfahre ich ihn. Sein k�rperliches Leiden und seine Schmerzen gehen uns zu Herzen. Der Mut und die Kraft seines Geistes sind ungebrochen. So ist er ein Anker der Hoffnung f�r alte, kranke und leidende Menschen. Wie kraftvoll hat er sich in der Irakkrise, im Irakkrieg und im Nachkriegsgeschehen f�r den Frieden eingesetzt. Alle Politiker von Rang in dieser Welt haben ihn besucht, sind mit ihm in Verbindung getreten. Er ist die moralische Autorit�t f�r Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt. Er bringt auch das Wunder zustande, dass 80.000 Schweizer Jugendliche ihm zujubeln und ihn begeistert anh�ren, was keiner erwartet h�tte. Gerade in seinem Alter und in seiner Schwachheit ist der Papst uns und den alten Menschen Ikone der Hoffnung und daf�r bin ich ihm dankbar.

Es ist der greise Simeon, der im Tempel den jungen Jesus auf seinen Armen h�lt. Er steht f�r alle alte Menschen, die Gottes Heil erwarten:

"Nun l�sst du, Herr, deinen Knecht

in Frieden scheiden.

Denn meine Augen haben dein Heil geschaut,

das du vor allen V�lkern bereitet hast" (Lk 2, 29 f.).