Aachen 2003

Previous page
Home page

Sonntag, 7. September 2003 - Eurogress
Er�ffnungsveranstaltung

  
  

Kyrill
Orthodoxer Metropolit, Vorsitzender des Au�enamtes des Moskauer Patriarchats
  

Liebe Br�der und Schwestern, liebe Freunde,

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts sind Ereignisse der Geschichte. Die V�lker Westeuropas leben seit fast 60 Jahren in Frieden. Aber wir Christen sollten die Worte des Heiligen Paulus nicht vergessen: �W�hrend die Menschen sagen Friede und Sicherheit!, kommt pl�tzliches Verderben �ber sie ... Darum wollen wir nicht schlafen, wie die anderen, sondern wach und n�chtern sein.� (1. Thess 5.3,6).

Nach dem Ende des Kommunismus, zu Beginn des dritten Jahrtausends, sieht sich die Menschheit mit der Bedrohung neuer Konflikte konfrontiert, die in dem Machtproblem der Welt und den Werteproblemen begr�ndet sind. Zwei Systeme stehen sich in diesem Konflikt gegen�ber: das s�kularisierte, humanistische System und das traditionelle religi�se System; eine liberale Weise den Einzelnen und die Gesellschaft zu sehen und eine Weise, die verwurzelt ist in den traditionellen Kulturen und Religionen. Was die liberale, s�kularisierte und humanistische Organisation der Gesellschaft und des Staates betrifft, so ist es bekannt, dass sie aus der philosophischen und politischen Entwicklung Westeuropas hervorging, dann von Nordamerika �bernommen und entwickelt wurde und im 20. Jahrhundert die Grundlage f�r die Arbeit der internationalen Organisationen bildete. Heutzutage postuliert sich der liberale �Standard� als universell g�ltig und beansprucht f�r sich, das Organisationsmodell f�r die Gesellschaft und den Staat weltweit festzulegen. Die rechtlichen und politischen Strukturen, die durch diese Standards geformt werden, werden zur Norm erkl�rt. Strukturen, die davon abweichen, werden verdammt oder mit bestraft. Das ist f�r viele Menschen sehr schmerzhaft, die au�erhalb der Grenzen Westeuropas und Nordamerikas leben, und weiter an anderen Werten in ihrem t�glichen Leben festhalten, insbesondere an den Werten ihrer religi�sen und kulturellen Tradition. Das Aufeinanderprallen dieser Ansichten verursacht auch auf intellektueller Ebene gro�e Spannungen. Einerseits lassen die Vertreter liberaler Ideen oft noch nicht einmal eine Neueinsch�tzung ihrer Werte zu. Das grundlegende Prinzip des Liberalismus � die Rechtm��igkeit und Zul�ssigkeit von verschiedenen Meinungen � wird von ihnen ignoriert, sobald es sich um eine Herausforderung des universalistischen Verst�ndnisses des modernen Liberalismus handelt. Andererseits schlie�en die Vertreter traditioneller Werte oft g�nzlich die M�glichkeit aus, mit ihren Gegnern zu einer Verst�ndigung zu kommen, deren Ansichten von vornherein als s�ndig und fremd f�r ein religi�ses Verst�ndnis der Welt und des Menschen angesehen werden. Die letztere These wird gest�tzt durch die Entstehungsgeschichte liberaler Ideen, wie sie im Westen aufgetreten sind, ohne wirklich einen Einfluss auf den Islam, das Judentum, den Buddhismus, den Hinduismus und ... die Orthodoxie zu haben. Ob die katholische Theologie in diesem Prozess eine Rolle gespielt hat ist unklar. Aber die Rolle des protestantischen Gedankenguts ist viel offensichtlicher, da der Protestantismus als solcher als ein Versuch entstanden ist, eine liberale Interpretation der christlichen Botschaft zu geben.

Leider sprechen sich heute nur wenige Stimmen f�r die Notwendigkeit eines seri�sen und unvoreingenommenen Dialogs zwischen dem liberalen, s�kularisierten Humanismus und kulturellen, religi�sen Traditionen aus. Nur inter-religi�se Beziehungen werden auf den entsprechenden Konferenzen diskutiert, w�hrend liberale und humanistische Aspekte fast nie ein Bestandteil sind. Dennoch wird oft das s�kularisierte, liberale und humanistische Klischee benutzt, um dieses oder jenes religi�se Konzept zu beurteilen und jede Auffassung wird entweder positiv oder negativ bewertet, je nachdem wie sehr sie den liberalen westlichen Normen entspricht. In dieser Hinsicht sind die kritischen Bemerkungen des Westens �ber die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch Orthodoxen Kirche ein deutliches Beispiel f�r eine derartige Bewertung.

Heutzutage braucht die Welt einen authentischen inter-religi�sen Dialog, insbesondere zwischen Christen und Muslimen und einen Dialog zwischen religi�sem und s�kularisierten, humanistischem Gedankengut. Das Ziel eines solches Dialoges sollte die Schaffung einer mehrpoligen Welt sein. Als Pole dieser Welt sollten nicht so sehr die Pole der politischen Macht in Betracht gezogen werden, obwohl man auch sie ber�cksichtigen wird, sondern vor allem die kulturellen und gesellschaftlichen Pole. Die Globalisierung, wie u.a. auch die Integration Europas, kann nicht auf der Grundlage einer einzigen Zivilisation durchgef�hrt werden. Die Meinung, dass dieses Projekt verwirklicht werden kann, ist ein gef�hrlicher Fehler und erinnert an die �berzeugung �einer allein richtigen und wissenschaftlich begr�ndeten� Lehre von Marx, Engels und Lenin. Es kann nicht nur ein einziges philosophisches Konzept geben, das die ganze Welt ordnet und welches in bezug auf die Vielfalt der religi�s-kulturellen Traditionen begrenzt ist.

Es ist f�r die meisten religi�sen Traditionen sehr schwer und oft fast unm�glich, der Vorherrschaft der Werte zuzustimmen, die von dem modernen, liberalen Standard vertreten werden: das hei�t, der Vorrang des irdischen Lebens �ber das Ewige; der Vorrang der pers�nlichen Freiheiten und Rechte �ber die moralischen Anforderungen des Glaubens und der Werte einer religi�sen Lebensart. Viele Menschen sind desillusioniert von der praktischen Anwendung der liberalen Normen in Wirtschaft und Politik. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer �rmer. Die Politik �einer kontrollierten Globalisierung� in der Wirtschaft verursacht und festigt die Armut und Machtlosigkeit der V�lker in der �zweiten� und �dritten� Welt. Dennoch behaupten die F�rsprecher des Neoliberalismus st�ndig, dass es zu ihrer Politik keine Alternative gibt. Aber ist das wirklich so? Kein wirtschaftliches Entwicklungsmodell kann als erfolgreich angesehen werden, wenn es nicht soziale Probleme l�st und Menschen die Gelegenheit gibt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Die wirtschaftliche Ungleichheit in der Welt h�lt das Hasspotential nicht nur aufrecht, sondern intensiviert es sogar st�ndig, bringt Instabilit�t hervor und n�hrt Terrorismus. Die Vertreter der liberalen politischen Elite haben Freiheit f�r die ganze Welt versprochen und tun das auch jetzt noch. In der Praxis jedoch verzichten sie nicht auf sehr harte Ma�nahmen, wenn es um die �Erziehung� und ��berzeugung� anderer Gemeinschaften geht, die auf einer anderen Ordnung des �ffentlichen Lebens bestehen. Ein anderes weniger wichtiges und weniger offensichtliches Beispiel, aber nicht minder bezeichnend, ist, dass in staatlichen Schulen vieler L�nder, einschlie�lich Russlands, die materialistische Ideologie und der s�kularisierte Humanismus ein Pflichtteil des Lehrprogramms sind, w�hrend religi�se Werte nach und nach vertrieben werden oder nur unter strengen Auflagen gestattet sind. Dadurch wird den Kindern oft die Chance genommen, eine echte Entscheidung zu f�llen. Gleichzeitig wird die Auffassung der religi�sen Welt oft auf k�nstliche Weise gegen die sogenannte wissenschaftliche Auffassung in Gegendsatz gestellt, welche angeblich als einzige dem Wohl der Gesellschaft dient.

Im Zusammenhang mit dem oben genannten ist die Situation in bezug auf die Diskussion des Projekts der Europ�ischen Verfassung, in der man nicht von den christlichen Werten spricht, sehr bezeichnend. Dennoch sollten Christen keine Angst haben dies deutlich auszusprechen: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Menschenw�rde verlieren ihre Bedeutung ohne moralische Werte und k�nnen sich in genau das Gegenteil verkehren. Wir wissen das aus der Geschichte. Europa bleibt eine echte spirituelle und kulturelle Macht in der modernen Welt, nicht nur weil es in den letzten zwei Jahrhunderten den Humanismus �bernommen hat, sondern auch weil in vielerlei Hinsicht die jahrhundertealten christlichen Traditionen hier noch lebendig sind. Das westliche Christentum besteht nicht nur, weil es sich externen Ideologien angepasst hat, sondern auch weil es durch sein historisches Erbe und den gelebten Glauben von Millionen einfacher Menschen stark ist. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sicher nicht zu einem blutigen Massaker, weil Anh�nger der �Aufkl�rung� in Moskau, Kiew oder Washington den friedlichen Prozess gestaltet haben. Der Grund ist, dass unser Volk sogar nach Jahrzehnten des staatlichen Atheismus, ein Gewissen und eine Moral bewahrt hat - als Orthodoxe, Muslime oder Mitglieder anderer Religionen.

Es stellt sich also folgende Frage: wenn die Europ�ische Union ein gemeinsames Haus f�r viele Nationen genannt wird, warum hat dann das s�kularisierte und humanistische Modell f�r die Organisation der Gesellschaft und des Staates darin ein Monopolrecht? Sollten wir nicht ernsthaft die M�glichkeit eines religi�s-moralischen Einflusses auf die soziale Ordnung in Betracht ziehen?

Wenn ich von religi�sen Werten spreche, meine ich gewiss nicht nur christliche Werte. Das Argument, dass es nicht m�glich ist, christliche Werte in die EU-Verfassung zu �bernehmen, da Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus und andere Nicht-Christen in Europa leben, scheint sehr t�ckisch zu sein. Es sind jedoch nicht die Vertreter traditioneller Religionen, die den Ausschluss der christlichen Werte aus der Pr�ambel unterst�tzen, da die grundlegenden moralischen Werte des Christentum gr��tenteils auch in den anderen traditionellen Religionen die gleichen sind.

Die Gesetzgeber des neuen Europa sollten sich die Position der Gl�ubigen anh�ren: s�kularisierte, liberale Werte allein reichen nicht aus. Sie reichen auch nicht f�r die Gesellschaft im allgemeinen aus. Wenn die Begriffe S�nde und pers�nliche Verantwortung ausgeschlossen werden, so sind die liberalen und s�kularisierten Werte und Freiheiten nicht in der Lage, den moralischen Verfall der Gesellschaft aufzuhalten, denn sie f�rdern die Freiheit des gefallenen Menschen, Freiheit ohne moralisches System. Eine solche Freiheit f�hrt zu Eigenm�chtigkeit, dem W�ten von freigesetzten Leidenschaften, der Zerst�rung der moralischen Koordinaten im Privatleben, der Familie und des sozialen Lebens. Das Wohlergehen Europas sollte auf der Auffassung aufgebaut werden, dass Menschenrechte, Frieden und Harmonie nur dann wahrhaft verwirklicht werden k�nnen, wenn an Pflicht und Verantwortungsbewusstsein appelliert wird, in einem konkreten System von moralischen Werten.

Heutzutage ist der Glaube weiterhin ein Schl�sselelement, welches das Verhalten von Millionen Menschen und ihren Lebensstil bestimmt. Wenn viele Christen und Gl�ubige anderer Religionen denken, dass ihr Glaube wichtiger ist als irdischer Wohlstand, dass die Solidarit�t nicht weniger wichtiger ist als individuelle Selbstverwirklichung, dass Gerechtigkeit nicht weniger wichtig ist als materieller Reichtum, und dass das Wohl des Vaterlandes �ber den pers�nlichen Interessen steht, dann haben ihre �berzeugungen ein Recht darauf, in der gegenw�rtigen sozialen Ordnung wiedergespiegelt zu werden. Ansonsten wird der Konflikt unvermeidlich.

Dennoch ein traditionelles Bewusstsein, das die Vorherrschaft der liberalen Normen kritisch interpretiert, kann unter bestimmten Umst�nden ein fruchtbares Mittel f�r Extremismus, auch den religi�sen, werden. Die Bedrohung des Terrorismus kommt dort auf, wo politische Radikale es schaffen, solche Leute von der Notwendigkeit zu �berzeugen, zu den Waffen zu greifen, um ihre Werte zu verteidigen. Heute werden westlich s�kularisierte Werte im Leben der Voelker durch die m�chtigsten L�nder aufgenommen und von ihnen eingesch�rft. Der Terrorismus, dem diese L�nder immer noch ausgesetzt sind, wird als der einzig effektive Weg der Auseinandersetzung angesehen. Die Situation in der Welt wird durch den Umstand verschlechtert, dass religi�s fanatische Radikale nicht nur an religi�se und traditionelle Werte appellieren, nicht nur die Lebensweise ihrer V�lker verteidigen, sondern nach globaler Verbreitung und Vorherrschaft ihrer religi�s-politischen Ansichten und �berzeugungen streben. Der Terrorismus des 21. Jahrhunderts ist kein inter-religi�ser Konflikt, kein Krieg zwischen Christen und Muslimen. Es ist ein Konflikt zwischen einer neuen Weltordnung, die auf nicht-religioesen liberalen Werten beruht und denen, die religioese und traditionelle Werten nutzen, um eigene Weltordnung zu errichten. Es ist sehr offensichtlich, dass dieser Konflikt so lange dauern kann, wie man will. Eine weitere Sache ist auch offensichtlich: weder milit�rische noch polizeiliche Ma�nahmen k�nnen die Menschen von der Bedrohung des Terrorismus beschuetzen. Was heute in der Welt passiert, bezeugt das ziemlich deutlich.

Trotzdem m�ssen wir �Nein� sagen zu der Ausnutzung der Religion durch politische Radikale, Fanatiker und einfachen Banditen. Wir m�ssen jede Form des Terrorismus verurteilen und das Recht des Staates, seine B�rger auch durch Anwendung von Gewalt zu sch�tzen, anerkennen. Es ist auch wichtig zu vermeiden, dass man �zweierlei Maߓ anwendet, indem man sowohl die Kriminellen verurteilt, die unschuldige Leute in Manhattan get�tet haben, als auch die organisierten Terrorakte in Tschetschenien, Moskau, Kosovo und in anderen Teilen der Welt.

Um der Gesellschaft ein friedliches Leben zu garantieren, ist es n�tig, sich auf eine neue multipolare und pluralistische Weltordnung zu st�tzen. Wenn wir das Bild fuer eine neue Gesellschaft entwerfen, muessen wir die religioesen und traditionellen Lebensmodelle beruecksichtigen. Es ist an der Zeit, das Verst�ndnis von Religion als einen wichtigen Teil der Weltgeschichte wiederherzustellen, dessen Fundament nicht nur auf den privaten und famili�ren Bereich begrenzt sein kann.

Ich m�chte noch einmal wiederholen, dass wir heute nicht nur Dialog zwischen verschiedenen Religionen brauchen, sondern zwischen Gl�ubigen und Menschen, deren Weltverstaendnis nicht auf religioesen Werten beruht. Letztere sollten akzeptieren, dass ihre Ansichten und ihr Blick auf die Welt nicht als absolut �neutral� und unparteiisch� bezeichnet werden k�nnen. Sie k�nnen nicht das einzige Gesellschaftsmodell werden, zu dem es keine Alternative gibt. Denn ein friedliches Leben, das nur auf einem ideologischen Modell basiert, kann nicht stabil sein. In diesem Fall werden wir nicht in der Lage sein, blutige Kriege im 21. Jahrhundert zu verhindern.

Um eine solche Entwicklung zu verhindern, sollten wir nationale und religi�se Traditionen einbeziehen, wenn es darum geht internationale Standards in das Leben des einen oder anderen Landes einzubringen. Wir brauchen eine solche internationale Reform des politischen, wirtschaftlichen und milit�rischen Lebens, welche den Weg f�r den Pluralismus der Kulturen, religi�sen Traditionen, Weltansichten, rechtlichen und politischen Systeme ebnen k�nnte. Um Krieg zu verhindern, ist es n�tig ein solches Klima auf der Welt zu schaffen, damit jedes die Moeglichkeit hat sich innerhalb ihrer religi�sen Traditionen und Kultur zu entwickeln.

Die Kritik an dem Monopol des universalen Models in Europa und in anderen L�ndern bedeutet keine negative Einstellung zu den Werten dieses Models und auch nicht an der M�glichkeit, diese Werte mit dem moralischen Aspekt der traditionellen, religi�sen Werte in Einklang zu bringen. Des weiteren ist es wesentlich, einen solchen Einklang mit Hilfe des Dialogs zwischen religi�sen Vertretern und der s�kularisierten Meinung herzustellen. Ich glaube, dass die Anerkennung sowohl der Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen als auch der moralischen Werte, die von den religi�sen Traditionen vertreten werden, die Grundlage dieses Einklangs sein sollten.

Zum Schluss m�chte ich nochmals unterstreichen, dass die Krise der Menschheit in den Bedingungen der Globalisierung nur durch die gemeinsamen Anstrengungen aller Gl�ubigen und Menschen guten Willens �berwunden werden kann durch die moralische Erziehung der Persoenlichkeit und Schaffung gerechter und lebenswichtiger Fundamente f�r das menschliche Zusammenleben.

 

 

  Copyright� 1999-2003 Comunit� di Sant'Egidio