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11 Septembre 2017 16:30 | Bezirksregierung Muenster, Freiherr-vom-Stein-Saal

Rede von Joachim Hake



Joachim Hake


Director of the Catholic Academy of Berlin, Germany
Jeder stirbt seinen eigenen Tod.  Wir haben nicht – wie Heidegger meinte  - vor allem Angst vor dem Nichts oder dem Tod, sondern vor dem Leben. Das Gesicht des Todes ist hoffentlich weiblich.  Es geht nicht um Eigentlichkeit im Tod, sondern um Trost und Staunen, um Sehnsucht und verwundetes Erschrecken, wenn wir bei der Hand genommen werden von der “Schönen, die hilft” (Hermann Kurzke).
 
Sitten und Gesetze, Moral und Ethik, Ritus und Liturgie helfen uns das Leben zu bestehen und vielleicht später auch das Sterben,  aber die Vermutung ist nicht  unbegründet, dass alle diese kulturellen Errungenschaften mehr und mehr ihre Grenzen offenbaren, je näher der Sterbende seinem Tod kommt. Große Hilfen im Leben und hier von sehr hohem Wert lässt der Sterbende sie schließlich hinter sich, wenn er seine letzte Fahrt antritt und im Sterben und im Tod sich vielleicht in besonderer Weise die Fülle des Lebens offenbart und sich in besonderer Weise die Gegenwart Gottes im und durch den Tod hindurch zeigt.  
 
Täglich hat mein Großvater, streng katholisch und sehr fromm, um eine gute Sterbestunde gebetet. Das habe ich als Kind immer mit großer Ehrfurcht gehört und mir vorgestellt, dass er im Kreise seiner Familie versehen mit den Sakramenten der Kirche sterben wird. Mein Großvater war Ostfriese von der Küste und wie alle Ostfriesen ein leidenschaftlicher Teetrinker. Als er sich eines Morgens nicht wohl fühlte, bat er seine Frau, ihm eine Tasse Tee zu bringen und als sie mit der Tasse in das Schlafzimmer zurück kam, war er gestorben. Ohne lange Krankheit zu vor und ohne die Sterbesakramente der Kirche. War das eine “gute Sterbestunde”? Besser als jene nach einer qualvollen Krankheit oder einem schrecklichen Siechtum?
 
Was immer eine Kultur des Lebens sein mag, sie tut gut daran, sich von dieser letzten Phase des Lebens Hinweise geben zu lassen, denn das macht sie vielleicht bescheiden und demütig und schützt sie vor moralischem, juristischem rituellem Hochmut und führt sie an jenen Ort, wo Beistand, Sorge, Trost und Tod zu einer Verwandlung zusammenkommen, die uns staunen macht und erschreckt, naturgemäß ängstigt und die wir immer fliehen.  
 
Was ich Ihnen anbieten möchte, sind nur wenige Versuche, diese Zusammenkunft etwas besser zu verstehen und darin auch das, was wir als Christen dazu sagen können. 
 
Der bekannte Soziologe und Politikwissenschaftler Peter Gross hat 2015 ein zutiefst berührendes Buch über das Sterben seiner Frau Ursula geschrieben . In diesem Buch über die Kraft des Abschieds, über die Liebe in der Abwesenheit, über die Sehnsucht nach Leben finden sich diese Sätze:  
 
„Wir haben uns im Angesicht des Todes angesehen, wie wir uns nie angesehen haben.“ (10 )  Und: „Auf dem Sterbebett versuchten Ursulas so fein gewordene Ärmchen wie mit letzter Kraft etwas zu fassen. Sie schwebten wie schwerelos über der Bettdecke. Und beruhigten sich, wenn sie halt in anderen Händen fanden.“ (33)
 
Unruhige Hände auf der Suche nach Halt und ein bislang unbekannter Blick, ein gegenseitiges Ansehen als Geschenk. Diese tastende Hände und diese tiefe Erfahrung von Liebenden, sich im Angesicht des Todes anzusehen, das sind Phänomene jenseits von Ethik und Moral, auch von Liturgie und Ritus. 
 
Im „Tod des Iwan Illitsch“  beschreibt Leo Tolstoi das Leben des Gerichtsangestellten Iwan Iljitsch und dessen vorzeitigen Tod im Alter von 45 Jahren. Dramatisch dicht dargestellt werden die Existenzangst, die Angst vor den Schmerzen im Tod sowie Machtlosigkeit und vor allem die Grausamkeit der Erkenntnis, sein Leben nicht sinnvoll gelebt zu haben.
 
„Alle die drei Tage, in denen es keine Zeit für ihn gab, zappelte er in dem schwarzen Sack, in den eine unsichtbare, unüberwindliche Gewalt ihn stopfte. Er schlug um sich, wie ein zum Tode Verurteilter in den Armen des Henkers um sich schlägt, obwohl er weiß, daß er nicht gerettet werden kann; und mit jeder Minute fühlte er , daß er trotz aller Bemühungen, Widerstand zu leisten, näher und näher zu dem kam, was ihn entsetzte. Er fühlte, daß seine Qual darin bestand, daß er in dieses schwarze Loch gestopft wurde, und noch mehr darin, daß er nicht hinein konnte. Hineinzukommen aber hinderte ihn die Überzeugung, daß sein Leben ein gutes gewesen war. Eben diese Rechtfertigung des eigenen Lebens hielt ihn fest, ließ ihn nicht vordringen und quälte ihn am allermeisten.“ (230)
 
Es ist die Rechtfertigung des eigenen Lebens, die den sterbenden Iwan Illitsch festhält. Und erst als die im Todeskampf verzweifelt suchende Hand den Kopf des eigenen Sohnes findet und von ihm geküsst wird, kann er sterben. 
 
„Das war am Ende des dritten Tages, zwei Stunden vor seinem Tode. Um dieselbe Zeit kam der Gymnasiast leise zum Vater geschlichen und trat vor sein Bett hin. Der Sterbende schrie immer noch verzweifelt und schlug mit den Händen um sich. Seine Hand traf den Kopf des Knaben. Der Knabe ergriff sie, drückte sie an seine Lippen und weinte.
 
In diesem selben Augenblick stürzte Iwan Iljitsch hinab, sah Licht und es ward ihm offenbar, daß sein Leben nicht so gewesen war, wie es hätte sein sollen, daß es aber noch gutgemacht werden konnte. …. „
 
Die Berührung von Hand und Kopf, der Kuss des Sohnes löst den Knoten des Todeskampfs, die Verkrampfung der Rechtfertigung eines Lebens, das wir nicht rechtfertigen können… 
 
„Statt des Todes war Licht da.
 
‚Das also ist es!‘ sagte er (sc. Iwan Illitsch] plötzlich laut. ‚Welch eine Freude!‘
 
Für ihn vollzog sich das alles in einem Augenblick, und die Bedeutung dieses Augenblicks änderte sich nicht mehr. Für die Anwesenden aber dauerte sein Todeskampf noch zwei Stunden. In seiner Brust gurgelte und röchelte es, sein abgezehrter Körper zuckte. Dann wurde das Gurgeln und Röcheln immer seltener.“ 
 
Hier ist der Sterbende irgendwann den Lebenden voraus und hat Moral und Ethik, Ritus und Liturgie, auch alle Rechtfertigung hinter sich gelassen. Wo die Menschen um ihn herum nur noch Röcheln und Ersticken sehen, ist der Sterbende schon im Licht hat sich ein Knoten des Lebens gelöst. 
 
Anders der Tod des Fürsten von Salina in dem Roman „Der Leopard“ von Tomasi di Lampedusa. Der Fürst – das ist „Der Leopard“ – erzählt die Geschichte der Familie Salina, ein melancholischer Roman, der in der Sonne Siziliens spielt, ein Text über die Weitergabe von Tradition und Lebens, über die Müdigkeit und Gewalt, über Liebe und Leidenschaft, Eros und Tod und über den Untergang der Familie in den Einigungskriegen Italiens im 19. Jahrhundert. Das wertvolle Geheimnis des Lebens – in seiner betörenden und erschreckenden Fülle spannt sich wie ein Bogen über das Buch im Blick der „Schönen, die hilft“. Das ist zuerst Maria. 
 
Dieser Roman hat einen der schönsten Anfänge, den ich kenne. Nunc et in hora mortis nostrae. Amen. Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.  Maria, die „Schöne, die hilft, steht am Anfang dieses Textes und am Ende die Erzählung des Sterbens: Und auch hier die Rechtfertigung, die Bilanz, aber viel offener, weiter und staunender als bei Tolstoi. 
 
„Er machte die Schlußabrechnung über sein Leben, er wollte aus dem ungeheuren Aschenhaufen der Passiva die goldenen Strohhälmchen der glücklichen Momente zusammenscharren. Da waren sie: zwei Wochen vor der Heirat, sechs Wochen danach; eine halbe Stunde bei Gelegenheit der Geburt Paolos, als er den Stolz verspürte, den Stamm des Hauses Salina um ein Zweiglein fortgesetzt zu haben (…); viele Stunden im Observatorium (…) Aber konnte man diese Stunden wirklich unter die Aktivposten des Lebens einsetzen? Waren sie nicht vielleicht eine vorausgenommene Schenkung der Glückseligkeit, die er erst der Tod gibt? Das war nicht wichtig, es hatte diese Stunden gegeben. (…) Da waren die ersten Stunden jedesmal, wenn er nach Donnafugata zurückgekehrt war, die Empfindung von Tradition und Dauer, ausgedrückt in Stein und Wasser; die gleichsam geronnene Zeit; das lustige Flintenknallen einiger Jagden, das freundschaftliche Gemetzel unter Hasen und Rebhühnern, hier und da ein gutes Gelächter mit Tumeo…. Die öffentliche Begeisterung, als er an der Sorbonne die Medaille in Empfang nahm; das delikate Gefühl beim Berühren einiger ganz feiner Krawattenseiden, der Duft von manchem mürbem Leder; der heitere, die Sinnlichkeit reizende Anblick mancher Frauen, denen man auf der Straße begegnet war, der etwa, die er gestern auf dem Bahnhof in Catania flüchtig gesehen hatte, im Gewühl, in ihrem braunen Reisekleid und den gamsledernen Handschuhen: ihm war es vorgekommen, als suche sie von draußen, in dem schmutzigen Abteil sein aufgelöstes Gesicht. Was für ein Geschrei in dem Gewühl! ‚Belegte Brötchen! ‚Il corriere dell’isola!‘ Und dann dieses Hin und Her des müden, atemlosen Zuges… Und diese grausame Sonne bei der Ankunft, diese lügnerischen Gesichter, das Hervorbrechen der stürzenden Wassermassen…“ (299-301)
 
Der Fürst stirbt in der Gegenwart seiner Familie, und er hat gebeichtet , vor allem aber staunend auf sein Leben geschaut, auf jene beglückenden Momente, die auch der Tod nicht ungeschehen machen kann.  
 
„Plötzlich schob sich durch die Gruppe eine junge Frau; schlank in einem braunen Reisekleid […] in einem Strohhut, geschmückt mit einem Schleier mit kleinen Kügelchen, der die schelmische Anmut des Gesichts nicht verhüllen konnte. Sie drückte leise mit dem Händchen im Gamslederhandschuh die Ellbogen zweier Weinender auseinander, sie entschuldigte sich, sie kam näher. Sie war es, sie, das immer ersehnte Wesen, das ihn holen kam […]und so, schamhaft, aber bereit, in Besitz genommen zu werden, erschien sie ihm weit schöner als er sie je erblickt hatte – dort in den Sternenräumen. 
 
Das tosende Meer kam zur Ruhe.“  
 
Wieder anders der Tod von Maurice Halbwachs im KZ – wie ihn sein Begleiter Jorge Semprun schildert und Paul Ricœur interpretiert : 
 
‚Er lächelte, sterbend, sein Blick ruht auf mir, brüderlich. […] Ich hatte die Hand von Halbwachs genommen, der nicht die Kraft gehabt hatte, die Augen zu öffnen. Ich hatte lediglich eine Antwort in seinen Fingern gespürt, einen leichten Druck: eine kaum wahrnehmbare Botschaft […] Und hier das Zeugnis über das Aufblühen des Wesentlichen: in den Augen, ‚eine Flamme der Würde, besiegter, doch unversehrter Menschlichkeit. Das unsterbliche Leuchten eines Blicks, der das Nahen des Todes feststellt, der weiß, woran er ist, der ihn genau kennt, Auge in Auge alle Risiken und Einschätze abwägt, frei und souverän.‘
 
Im erschreckten Staunen des Sterbenden kann sich die Fülle des Lebens zeigen. Für den Sterbenden und für uns. Im Ringen mit und im Tod taucht das Wesentliche, tauchen die „Quellen des Lebens“  auf – wie Ricœur in Erinnerungen an den Tod seiner Frau – schreibt. Es gibt eine Fülle des Lebens, die sich nur im Abschied zeigt, wenn wir zur Sehnsucht nach Leben und Fülle stehen und die Kraft haben, uns an den Händen zu halten und einander und dem Tod ins Gesicht zu sehen. Es ist nach Kräften dafür Sorge zu tragen, diesen Abschied zu schützen und heilig zu halten. 

 

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