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Frankfurter Allgemeine Zeitung

November 18 2008

Mitleid und Vergebung

 
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14 Jahre alt sei Dietrich Bonhoeffer gewesen, als er in der Schule gefragt wurde, was er später werden wolle: Theologe wolle er werden und ein Buch über den Tod schreiben, antwortete der Junge zur Überraschung seiner Familie und seiner Freunde. Das war im Jahr 1920. Später studierte Bonhoeffer Theologie, doch schrieb er kein Buch über den Tod. Der begegnete ihm auf andere Weise. Aus tiefer religiöser Überzeugung heraus wurde Bonhoeffer zu einer der zentralen Figuren des Widerstands gegen Hitler. Wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er, 39 Jahre alt, im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.

Mehr als sechzig Jahre sind seit dem Tod Bonhoeffers vergangen, aber der schwedische Bischof Martin Lind erzählt die Geschichte des Martyriums des deutschen Theologen während des Friedenstreffens der Gemeinschaft von Sant' Egidio so lebendig, als habe sie sich gestern zugetragen - oder zutragen können. Denn Verfolgung, Folter und Tod von Christen um ihres Glaubens willen sind auch heute eine Signatur der Zeit. Manche, die an diesem späten Montag Nachmittag zu einem Gespräch über das Thema „Das Vermächtnis der Märtyrer des 20. Jahrhunderts" zusammengekommen sind, haben es am eigenen Leib erfahren.

Alexander Ogorodnikov etwa, ein orthodoxer Christ, der nach langer Haft während der Perestrojka den Folterkellern des Gulag entronnen ist. Auch Jean-Baptiste Sleiman, der lateinische Erzbischof von Bagdad, weiß nur zu gut, wovon der lutherische Amtsbruder spricht: Die jüngste Geschichte des Irak ist auch mit dem Blut vieler Christen geschrieben: Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Männer, Frauen, Kinder, Priester und Bischöfe; entführt, erschossen, verschwunden. Doch warum sollte das 21. Jahrhundert anders beginnen als das 20. Jahrhundert begann und endete? Zwischen dem lutherischen Bischof aus Schweden und dem katholischen Bischof aus dem Irak sitzt Katholikos Aram I., das geistliche Oberhaupt der Exil-Armenier: Etwa 1,5 Millionen Mitglieder dieses christlichen Volkes fielen während des Ersten Weltkriegs in Kleinasien einem Völkermord zum Opfer. Katholikos zieht eine Linie von dem durch die heutige Türkei bis heute geleugneten Genozid über die Shoah bis nach Ruanda. Das 20. Jahrhundert endete, wie es begonnen hatte: mit Völkermord. Gibt es Hoffnung, dass die Geschichte des 21. Jahrhunderts einen anderen Verlauf nimmt als die Geschichte des 20. Jahrhunderts? Im indischen Bundesstaat Orissa seien in den vergangenen Wochen mehr als 500 Katholiken dem Terror von Hindu-Extremisten zum Opfer gefallen, sagt Sleiman. So wird wohl auch die Geschichte dieses Jahrhunderts eine Geschichte von Bekennern und Märtyrern sein, eine Geschichte tausendfachen Todes vor der Zeit.

Manch einem Zuhörer kommt an diesem späten Nachmittag in der zyprischen Hauptstadt Nikosia die Erfahrung der frühen, immer wieder von Verfolgungen heimgesuchten Kirche in den Sinn, dass das Blut der Märtyrer der Same neuer Christen sei. Ist das ein Schlüssel zum Verständnis des Märtyrertodes von 27 Millionen Christen allein im 20. Jahrhundert, doppelt so vielen wie in allen Jahrhunderten zuvor?  

Niemand im Saal, sei es auf dem Podium oder unter den Zuhörern, machte sich anheischig, diesem Geschehen einen Sinn zu unterlegen. Doch immer wieder kam die Rede auf eine spezifische Dimension christlichen Märtyrertums: des Gebets für den Mörder, die Bitte um Vergebung für das Unrecht, die Hoffnung auf Versöhnung verfeindeter Gruppen und Völker, die Sehnsucht nach einem Ende des Kreislaufs von Gewalt und Gegengewalt. „We are people of forgiveness, we are people of reconciliation," sagte Katholikos Aram.

Am nächsten Morgen wird die kolumbianische Politikern Ingrid Betancourt mit ähnlichen Worten ihre Gefühle gegenüber ihren Peinigern beschreiben, nachdem sie vor wenigen Monaten wie durch ein Wunder aus der mehr als sechs Jahre währenden Gefangenschaft in den Händen der kommunistischen Farc-Guerrilla befreit wurde: Mitleid und Vergebung gegenüber jenen, die sie mehr als sechs Jahre erniedrigt und gefoltert hatten.  Am Anfang ihrer Gefangenschaft habe sie dies nicht vermocht, berichtet sie unter Tränen. Erst mit der Zeit habe ihr der Glaube geholfen, auch in ihren Peinigern Menschen zu sehen, die wie sie der Erlösung bedürften - sie zu einem Leben in körperlicher Freiheit, die anderen zu einem Leben frei von ideologischer Verblendung und dem unmenschlichen Zwang der Gruppe.

Die Hoffnung, dass Kraft zu Vergebung und Versöhnung nicht nur aus selbst erlittenem Unrecht erwächst, sondern auch aus der Erinnerung an das Unrecht, das anderen widerfahren ist, hat Papst Johannes Paul II. bewogen, die zahllosen Märtyrerschicksale des 20. Jahrhunderts nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Im Blick auf das „Heilige Jahr 2000" setzte er in den frühen neunziger Jahren eine „Kommission neue Märtyrer" ein, die seither die Schicksale bekannter und unbekannter Glaubenszeugen gleichermaßen dokumentiert. Mitglieder der Gemeinschaft Sant' Egidio waren von Beginn an dabei.

Im Heiligen Jahr 2000 vertraute der Papst der Gemeinschaft Sant' Egidio die auf einer Insel im Tiber gelegene Kirche San Bartolomeo als eine Kirche der Märtyrer des 20. Jahrhunderts an. Tag für Tag hält die Gemeinschaft nun mitten in Rom die Erinnerung an die christlichen Glaubenszeugen unserer Zeit wach, über alle Konfessionen und Kontinente hinweg. Reliquien im klassischen Sinn, sterbliche Überreste der Verstorbenen, finden sich in dieser Kirche nicht. Statt dessen ist sie zu einem Ort des Gebets und der Begegnung von Christen aller Konfessionen geworden, nicht zuletzt der Angehörigen und Freunde derer, denen hier gedacht wird.

So finden auch immer wieder Gegenstände aus dem Besitz der Verstorbenen und Berichte von Weggefährten ihren Weg nach San Bartolomeo: Ein Brief des protestantischen Glaubenszeugen Paul Schneider aus dem Konzentrationslager Auschwitz, Gegenstände aus dem Besitz des 1980 in San Salvador ermordeten Erzbischofs Oscar Romero, und - seit wenigen Wochen -ein Kreuz, das die italienische Ordensfrau Leonella Sgarbati trug, die wenige Tage nach der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. in der somalischen Hauptstadt Mogadischu zusammen mit ihrem Leibwächter von islamischen Fanatikern ermordet wurde.

Papst Benedikt XVI. hat San Bartolomeo Anfang April zum ersten Mal besucht. Den äußeren Anlass bot die Erinnerung an die Gründung von Sant' Egidio vor vierzig Jahren. Doch im Mittelpunkt der Begegnung am 7. April standen das Gebet in Erinnerung an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts - und die Sorge um die zahllosen Christen, die noch heute in vielen Teilen der Welt ihres Lebens nicht sicher sein können.


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