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Marraskuu 30 2017

Die Geschichte eines langen römischen Winters

Der Historiker Andrea Riccardi gibt Auskunft über Verfolgung und Rettung der jüdischen Bevölkerung der Ewigen Stadt in den Kriegsjahren 1943/44. Von Ulrich Nersinger

 
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Andrea Riccardi ist der Gründer der heute auf der ganzen Welt bekannten und geschätzten „Comunita Sant'Egidio“. Der 1950 in der Ewigen Stadt geborene Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte, Geschichte des Christentums und Religionsgeschichte an der staatlichen „Universita degli Studi Roma Tre“ in Rom hatte 1968 als Gymnasiast die Gemeinschaft von SantEgidio ins Leben gerufen. Aus einer kleinen katholischen Basisgemeinde im Stadtviertel Trastevere, die schon früh Beziehungen zu den römischen Juden, Muslimen und Atheisten aufnahm, erwuchs schließlich ein internationales Netzwerk für den Dialog und die Verständigung unter den Religionen und Kulturen. Im Jahr 2009 wurde Riccardi der international renommierte Karlspreis der Stadt Aachen für seinen Einsatz gegen Armut und für Frieden verliehen.

Mehr als 10 000 römische Juden überlebten

Im Pontifikat des heiligen Johannes Paul II. agierte er oft in päpstlichem Auftrag als Friedensvermittler, so unter anderem im libanesischen Bürgerkrieg und in Mosambik. Von November 2011 bis April 2013 war Riccardi in der Regierung des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti als Minister ohne Geschäftsbereich mit dem Arbeitsauftrag für „Internationale Zusammenarbeit und Integration“ tätig. Einen herausragenden Namen besitzt Andrea Riccardi auch als Verfasser historischer Schriften. 2008 veröffentlichte er auf Italienisch unter dem Titel „L'inverno piu lungo, 1943–44: Pio XII, gli ebrei e i nazisti a Roma“ die Geschichte der Juden im besetzten Rom der Jahre 1943/44. Erst im Okober dieses Jahres erschien das Buch – ein Muss für jeden (kirchen)historisch Interessierten – als „Der längste Winter“ in deutscher Sprache.

Nachdem der Duce, Benito Mussolini, die Kontrolle über Italien verloren hatte, besetzten Truppen der deutschen Wehrmacht im September 1943 die Ewige Stadt. Für die jüdische Bevölkerung Roms begann damit ein schrecklicher, bis zur Befreiung durch die Alliierten im Juni 1944 dauernder „langer Winter“, in dem die Besatzungsmacht die Politik der „Endlösung“ auch in Rom durchzusetzen versuchte. Mehr als zweitausend römische Juden, die in dieser Zeit verhaftet wurden, fielen der brutalen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. Doch die Deutschen stießen auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung. Mehr als 10 000 römische Juden überlebten, vor allem dank der tatkräftigen Hilfe couragierter Bürger und Kirchenleute. Weit mehr als viertausend Juden fanden Schutz in Ordenshäusern, Pfarreien, kirchlichen Institutionen und Besitzungen des Vatikanstaates.

Andrea Riccardi erzählt die Geschichte dieses „langen Winters“, die bewegende und tragische Geschichte der verfolgten Juden, ihrer kirchlichen und weltlichen Helfer. Neun Monate war Rom eine Hauptstadt ohne Staat. Die savoyische Monarchie hatte gleichsam kapituliert, als der König in den Süden Italiens geflohen war. Mussolinis Rumpfregime von Salo wurde allerorts belächelt.

Dokumentation des Kampfes zwischen Gut und Böse

Die Deutschen waren die Besatzer und „Herren“ der Stadt. Für Riccardi lebte Rom damals unter einer Subsistenzherrschaft: „Und die Stadt überlebte all die Willkür, weil es Bündnisse von Menschen guten Willens, teils seltsame Allianzen gab, weil Familien und Ordensgemeinschaften sich engagierten, weil Einzelne sich durchschlugen und weil der Papst sich für die Stadt einsetzte.“

„Der Historiker schreibt nicht, um zu erbauen oder zu verurteilen, sondern um zu erzählen und zu verstehen“, erklärt sich der Autor im Vorwort seines Buches. Er tut dies bravourös. Es gibt bisher keine detailreichere Schilderung der Ereignisse, als diejenige, die Andrea Riccardi mit seinem Buch vorlegt. Und auch keine, die so überzeugend die Komplexität des damaligen Geschehens und Handelns vermittelt. Riccardi versucht vorurteilsfrei die Schwierigkeiten, die Zwänge und die Möglichkeiten aufzuzeigen, denen die „personae dramatis“ dieser furchtbaren Zeit unterlagen oder die sie zur Verfügung hatten. „Wie gerne hätte ich die Geschichte jedes Einzelnen, der gerettet wurde, und jedes Einzelnen, der geholfen hat, erzählt“, bedauert der Autor.

Ohne Zögern muss man Andrea Riccardi jedoch versichern, dass er in seinem Werk mehr Namen von Menschen – Opfer und Helfer – genannt hat, als jeder andere in einer vergleichbaren Publikation zuvor. Und vor allem Personen, besser gesagt Persönlichkeiten, ins Licht rückt, die in jenem „langen Winter“ Zeugen der Menschlichkeit waren, selber aber über ihr Handeln nie sprachen. Sogar derjenige, der glaubt, mit der Geschichte der deutschen Besatzungszeit in Rom vertraut zu sein, wird staunen über so manchen Namen und so manche Tat, die er beim Lesen des Buches erfährt. Dieser Aspekt des Buches und viele andere, so Riccardis stete Sachlichkeit und bemerkenswerte Unaufgeregtheit (die nicht mit mangelnder Anteilnahme zu verwechseln ist), machen es zu einer unverzichtbaren Dokumentation des Kampfes, den Gut und Böse in der Welt miteinander austragen.

Die italienische Tageszeitung „La Stampa“ schrieb über das Buch: „Es kommt vor, dass ein Journalist es unternimmt, sich zum Historiker zu wandeln, manchmal auch mit Erfolg; sehr viel weniger häufig geschieht es, dass ein namhafter Historiker sich entschließt, ein historisches Ereignis im Stil und mit dem Duktus des Journalisten zu erzählen.“

Andrea Riccardi: Der längste Winter. Die vergessene Geschichte der Juden im besetzten Rom. 464 Seiten, Theiss Verlag, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-8062-3622-1, EUR 29,95


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