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Bayerischer Rundfunk

24 Mai 2009

Porträt Prof. Andrea Riccardi

 
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Am 21.5.2009 wurde der Gründer der römischen Basisbewegung von Sant Egidio, Prof. Andrea Riccardi, mit dem Aachener Karlspreis geehrt. Die Auszeichnung, die für ein besonderes Engagement im Dienst des Friedens und der Versöhnung in Europa nun zum 50sten Mal vergeben wurde, erhielten bislang meist Politiker: Konrad Adenauer gehört ebenso zu den Preisträgern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit Andrea Riccardi zeichnet die Jury nun - nach Frere Roger Schutz von Taize und Papst Johannes Paul II – zum dritten mal eine Persönlichkeit des religiösen Lebens aus…

Jeden Tag um 20.30 Uhr ist die römische Basilika von Santa Maria in Trastevere bis auf die letzte Bank gefüllt: Zum Abendgebet der Gemeinschaft von Sant Egidio sind Menschen jeden Alters versammelt, Frauen und Männer, Geistliche und Laien, Afrikaner, Asiaten und Europäer. Auch der Gründer der katholischen Basisbewegung, Professor Andrea Riccardi, schließt sich den Zusammenkünften an, wann immer sein Terminkalender es ihm erlaubt:

Wir von Sant Egidio glauben an die Macht des Gebets. Es kann Berge versetzen. Es ist der Geist, der letztendlich die Geschichte der Welt bestimmt. Wenn man diese geistige Dimen-sion aus dem Leben der Gesellschaft heraus streicht, wie das im 20sten Jahrhundert immer wieder versucht wurde, ist das als nähme man den Menschen die Seele. Wer Frieden schaffen will in der Welt, braucht einen nüchternen Sinn für die Realität aber auch Hoffnung, die nur aus dem Gebet kommen kann.

Bittet man Andrea Riccardi, die Tätigkeit von Sant Egidio genauer erklären, erhält man von dem grauhaarigen, intellek-tuellen Römer oft die überraschende Antwort: „Kommen Sie, und beten sie mit uns.“ - 40 Jahre sind vergangen seit der Historiker zusammen mit anderen Studenten in Rom eine Gemeinschaft katholischer Laien gründete, deren Ziel schlicht darin bestand, die Ideale des Evangeliums in die Praxis umzusetzen. Der Politologe, Cesare Zucconi, erinnert sich:

Sant Egidio ist Ende der 60er Jahre entstanden. Das waren natürlich Jahre, wo man alles kritisiert hat, alles war auch sehr politisch. Andrea Riccardi, und die, die er gerufen hat, haben dieses Klima ihrer Generation, ihrer Zeit geatmet. Aber es waren auch die Jahre nach dem zweiten Vatikanischen Konzil, mit diesem Aufbruch in der katholischen Kirche. Das Evangelium bedeutete für diese Jugendlichen auch zu entdecken: die erste Kritik war die Kritik an sich selbst. Die erste Änderung war die Änderung des eigenen Herzens, des eigenen Lebens. Das war die Entdeckung des Evangeliums. Wir sagten damals: Nur neue Menschen können eine neue Welt aufbauen.

Ihren Namen verdankt die Gemeinschaft dem Umstand, dass in den 70er Jahren ein verlassenes Kloster im Stadtteil Trastevere zu ihrem Hauptsitz wurde: Es war dem Heiligen Aegidius geweiht, - Sant Egidio - einem Beschützer der Kranken und Schwachen. Auch für Andrea Riccardi und seine Freunde stand der Einsatz für die Armen von Anbeginn im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Er führte die Gemeinschaft jene römischen Viertel, die abseits der berühmten Kirchen und mondänen Einkaufsstraßen liegen, und in denen auch heute noch Elendsquartiere mit Wellblechbaracken stehen. Hier versuchen all jene zu überleben, die in der Weltstadt ihre Chance suchten aber nicht fanden: Flüchtlinge, Sinti, Obdachlose.

Diese Barackenviertel, wir spürten, dass das eine Herausforde-rung waren für unser Leben. Es war eben nicht die Frage: Was macht der Staat? Was macht die Kirche? Sondern: Was machen wir für diese Leute? - und besonders die Kinder, die oft nicht die Pflichtschule besuchten, mit Analphabeten als Eltern, Kinder, die in sehr jungen Jahren bereits hart arbeiteten mussten? Wir haben am Anfang mit einer Hausaufgabenhilfe angefangen. Wir spürten vor diesen Kindern auch unseren Reichtum, wir waren Gymnasiasten, wir konnten lesen, schreiben, wir konnten Fremdsprachen, wir hatten eine Familie, wir waren reich und spürten die Verantwortung, die Herausforderung, diesen Kindern eine Hilfe zu geben.

Es entstanden die sog. „Friedensschulen“ von Sant Egidio, die inzwischen in vielen Ländern existieren. Die erste Nieder-lassungen der Gemeinschaft außerhalb Italiens bildete sich schon früh in Würzburg. Heute verbinden das regelmäßige gemeinsame Gebet und der Einsatz für die Schwachen in der Gesellschaft fast 60 000 Mitglieder der Bewegung in über 70 Ländern. Sant Egidio leitet Zentren für Behinderte und Senioren, tritt weltweit für die Abschaffung der Todesstrafe ein und kämpft gegen Aids in Afrika. Mehr denn je ist Andrea Riccardi aufgrund seiner Jahre langen Erfahrung überzeugt:

Wir müssen uns mit den anderen Menschen, gerade auch mit den Ausgegrenzten, gemeinsam an einen Tisch setzen. Wir müssen einander in die Augen sehen und miteinander reden. So werden wir die Gräben, die uns trennen überwinden. Frieden beginnt in den Herzen der Menschen, bescheiden und geduldig. Und wir von Sant Egidio haben immer gespürt, wie sehr wir dabei den Mut des Glaubens brauchen. Er gibt uns die Kraft, unsere Verantwortung anzunehmen und für die Versöhnung unter den Menschen zu arbeiten.

Es ist diese Kraft aus der Andrea Riccardi selbst lebt, um die zahllosen Aufgaben zu bewältigen, die heute mit der weltweiten Präsenz von Sant Egidio verbunden sind. Sie lassen dem Profe-ssor nur wenig Zeit für seine Vorlesungen an der Römischen Universität oder Veröffentlichungen zur Kirchengeschichte des
20sten Jahrhunderts.

Internationale Schlagzeilen machten er und Sant Egidio erst-mals 1992, als es der Gemeinschaft gelang, die verfeindeten Kriegsparteien Mozambiques zur Unterzeichnung eines Friedens-vertrags zu bewegen. Anschließend wurde Sant Egidio immer wieder in Kriegsgebieten tätig und sogar mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert.
Kurz nach den Attentaten vom 11. September 2001 sorgte die Gemeinschaft in Rom erneut für Aufmerksamkeit, als sie in der angespannten Situation innerhalb weniger Wochen ein islamisch-christliches Gipfeltreffen einberief.

Bei der Abschlussfeier, zu der sich Tausende auf dem Platz vor Santa Maria in Trastevere versammelt hatten, unterzeichneten hochrangige Vertreter beider Religionen gemeinsam einen Friedensappell. Und Andrea Riccardi konnte sagen:

Diese Welt wird von Konflikten zerrissen. Und nicht wenige versuchen diese Gewalt mit dem Namen Gottes zu rechtfertigen. Demgegenüber muss man deutlich machen, dass die Religionen niemals Werkzeuge des Hasses werden dürfen. Wenn der Geist in einer Religion verloren geht, wird sie gewalttätig. /Ich danke Euch, die Ihr aus allen Teilen der Welt gekommen seid und beweist, wie sehr der Frieden im Glauben verwurzelt ist. 

Die Ökumene und der interreligiöse Dialog sind aus der Arbeit von Sant Egidio längst nicht mehr wegzudenken. Alljährlich organisiert die Gemeinschaft in einem anderen Land Europas ein Friedensgebet mit führenden Vertretern aller christlichen Kirchen und aller Weltreligionen. Die Begegnungen stehen in der Nachfolge des 1986 von Johannes Paul II einberufenen
Weltgebetstreffens in Assisi. Für 2009 ist das Friedensgebet von Sant Egidio in Polen geplant. 2003 fand es erstmals in Deutschland statt, in Aachen, und hinterließ dort einen bleibenden Eindruck. - nochmals Andrea Riccardi:   

Der Aachener Karlspreis wurde mir als dem ältesten Mitglied von Sant Egidio zugesprochen, aber im Grunde geht er an die ganze Gemeinschaft. Es ist eine Anerkennung unserer Arbeit für die Armen in Europa und für den Frieden in der Welt. Der Preis ist für uns die Bestätigung einer Vision, die ihre Wurzeln im Evangelium hat. Wir sind überzeugt, dass Europa eine Zukunft hat, aber Europa kann dabei nicht isoliert leben, abgegrenzt, in Angst vor den anderen. Unsere Vision ist die Vision weltweiter Solidarität.


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