«Was gibt es in diesem Zimmer?» Die gut vierzig erwachsenen Schüler, mehrheitlich Männer, blicken aufmerksam zum Lehrer. Ein etwa Dreissigjähriger mit Bart meldet sich: «Maestro, es gibt in diesem Zimmer viele Stühle». «Gut!», entgegnet der Lehrer und fragt weiter: «Minerva, was gibt es hinter dir in diesem Zimmer?»
Es ist abends um halb sechs an der Schule für Italienisch als Fremdsprache, die von der Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom geführt wird. In dem Zimmer, das beschrieben werden soll, gibt es ausser den anwesenden Menschen aus aller Welt wenig Gegenstände: Fenster, Türen, Klimaanlage. Der Lehrer, ein junger blonder Mann, arbeitet mit Fragen und Antworten, ab und zu schreibt er in den Laptop, dessen Bildschirm an die Wand projiziert wird. Manchmal zeichnet er zur Verdeutlichung etwas auf den Flipchart.
Es ist erstaunlich leise in Anbetracht von Klassengrösse und Tageszeit. Dies sei ein Anfängerkurs, erklärt Massimiliano Signifredi (40) hinterher. Er ist wie der Lehrer Mitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio und Verantwortlicher für die Jugend. Signifredi arbeitet mit Waisen und Flüchtlingen und ist in der Gemeinschaft auch für die Studenten zuständig. Dass der Historiker dies ausschliesslich in seiner Freizeit tut, erwähnt er nur nebenbei.
«In der Klasse sind Migranten und Flüchtlinge aus aller Welt», erklärt er weiter. «Darunter auch zehn Syrer, die wir über den humanitären Korridor aus dem Libanon geholt haben. Diese wohnen auch in unserer Gemeinschaft.»
Auswahlkriterien
Seit Februar 2016 seien 272 Menschen auf diese Weise aus dem Libanon nach Italien geholt worden, die meisten davon Syrer. «Wir haben klare Kriterien, nach denen wir auswählen», erklärt Signifredi, der selber im Libanon war, als eine Gruppe nach Italien geholt wurde. «Wir wählen die Verletzlichsten aus. Dafür arbeiten wir im Libanon mit Organisationen vor Ort zusammen, die uns Empfehlungen abgeben», erklärt er und erzählt von einem Mädchen, das eine seltene Krebserkrankung hatte, von einer Mutter die ohne Mann mit drei Kindern im Libanon war, oder von Syrern, die gefoltert wurden.
«Im Libanon leben viele Flüchtlinge, in oder ausserhalb von Lagern, die arbeiten und ein Dach über dem Kopf haben. Sie warten nur darauf, dass sich die Situation in Syrien verbessert, damit sie zurückkehren können.» Einige aber seien so verzweifelt, dass sie eine Bootsfahrt nach Europa in Erwägung zögen. Auch diese kämen für den humanitären Korridor in Betracht. Die verletzliche Situation der Flüchtlinge müsse allerdings klar aufgezeigt werden.
Fingerabdrücke
Als weiteres Kriterium komme die Sicherheit dazu, erklärt Signifredi weiter. Von den Ausgewählten würden Fingerabdrücke genommen, die an alle Polizeistationen in Europa geschickt würden. Die Betroffenen dürften nicht gegen das Gesetz verstossen und keinerlei Verbindungen zu islamistischen Terroristen haben.
Einer der Syrer, die auf diesem Weg nach Rom gekommen sind, ist Dani (27). Er ist seit zwei Wochen in Italien und besucht die oben beschriebene Anfängerklasse. «In Syrien ist Krieg», erzählt er auf Englisch, «meine Familie wurde durch den IS bedroht.» Hier sucht der junge Mann nach Worten, schweigt dann aber. Signifredi ergänzt später, dass Dani eine sehr schwierige Flucht hatte, Christen wie er würden oft entführt. Dani sei allein im Libanon gewesen und habe dort kein Stipendium bekommen. In Syrien habe er eine Ausbildung als Physiotherapeut angefangen, die er in Italien beenden möchte. «In Syrien hätte ich in meinem Alter längst Familie», scherzt Dani mit Blick zu Signifredi, der zwei Kinder hat.
Willkommen heissen
Es sei sehr wichtig, die Flüchtlinge willkommen zu heissen, wenn sie nach Italien kämen, erklärt Signifredi weiter. Der Präsident von Sant’Egidio, Marco Impagliazzo, sei aus diesem Grund einmal persönlich an den Flughafen gereist. «Flüchtlingskinder, die am Flughafen ankommen, lachen und spielen dort, wie alle Kinder an einem Flughafen. Das ist ein so ganz anderer Anblick als jene Kinder, die erschöpft und weinend auf Lampedusa ankommen!» Denn die Gemeinschaft ist überzeugt: «Wenn jemand willkommen geheissen wird, ist die Gefahr einer Radikalisierung um ein Vielfaches kleiner», so Signifredi.
Die so eingereisten Flüchtlinge seien über das ganze Land verteilt, etwa 40 lebten in Rom. Im Herbst sollen erstmals auch Menschen aus Lagern in Marokko und Äthiopien geholt werden. Für diese Tätigkeit erhalten weder die Gemeinschaft Sant’Egidio noch die Föderation Evangelischer Kirchen Geld vom Staat. «Wir arbeiten gut mit der Zivilgesellschaft zusammen», umschreibt Signifredi die Tatsache, dass dies über Spendengelder finanziert wird. Die Menschen seien froh um diese Möglichkeit. «Die Bilder von den Flüchtlingen auf Lampedusa, die übervollen Boote, die vielen Ertrunkenen, das setzt allen zu. Die italienische Gesellschaft ist dankbar für diese andere Art der Migration.»
Bibel und Gebet als Quelle
Woher aber nehmen Mitglieder wie er die Zeit und die Kraft, sich neben familiären und beruflichen Verpflichtungen auf diese Weise zu engagieren? Die Quelle ihres sozialen Engagements seien die Bibel und das Gebet, erklärt er. Sein Kollege Paolo Ciani (45) pflichtet ihm bei: «Diese Verbindung zwischen dem Wort Gottes und dem realen Leben hat mich von Anfang an fasziniert».
Wie man genau Mitglied dieser Laiengemeinschaft wird, vermögen beide nur schwer in Worte zu fassen. «Es ist eine Wahl des Herzens. Man entscheidet sich mit einer gewissen Verbindlichkeit für ein Leben, das im christlichen Glauben wurzelt», sagt Ciani. Wie hoch diese Verbindlichkeit ist, sei den einzelnen Mitgliedern überlassen. Denn je nach Lebensphase verfüge man über mehr oder weniger Zeit für ein solches Engagement. Ciani selber ist Familienvater und Bibliothekar, bei Sant’Egidio engagiert er sich in der Arbeit mit Roma.
Was das bedeutet, zeigt sich auf eindrückliche Weise nach dem Abendgebet, das täglich um 20.30 Uhr in der Basilica Santa Maria in Trastevere stattfindet: Während viele etwas beschämt an der Bettlerin vorbeilaufen, die den Kirchgängern einen Pappbecher hinstreckt, geht Ciani auf sie zu, umarmt sie und fragt, wie es ihr heute gehe. (sys)