Liebe T.,
Ihr Brief hat mich ehrlicherweise vollkommen überrascht. Ich war fest davon überzeugt, dass mit jemandem wie mir niemand Briefkontakt möchte, um über reine, ehrliche, freundschaftliche Dinge zu sprechen. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief und Ihr gutes Herz.
Wie Sie wissen, bin ich ein Gefangener, doch jetzt bin ich im Krankenhaus und lasse eine schwere Tuberkulose behandeln (mein linker Lungenflügel funktioniert nicht mehr). Meine Beziehungen zu den anderen sind sehr schlecht. Man sieht uns nur als Verbrecher an, und keiner ist fähig oder bereit, auch einen Blick auf unsere Seele zu werfen. Doch in der Seele sind wir nicht so schlecht, auch wir brauchen (viel) Zuneigung, Zuwendung, Aufmerksamkeit und normale Gefühle. Doch wir sehen nur den schlechten Teil dieses Lebens, und die Seele verzehrt sich nach dem Guten und Schönen. Ich danke dem Herrn, dass er mein Gebet erhört hat und unseren Briefkontakt ermöglicht hat.
Man hat mir oft von Rom erzählt, doch ich möchte mit eigenen Augen alle Denkmäler aus Geschichte und Kultur anschauen. Leider ist das für mich ein unerreichbarer Traum. Rom, Venedig, wer hat nicht davon gehört, doch sehen kann sie nicht jeder, und ich gehöre dazu. Ich weiß nicht einmal, was in meinem Land passiert, weil ich Tag und Nacht in einem Zimmer ohne Radio eingesperrt bin und kein Geld habe, um die Zeitung zu kaufen. Ich könnte auch einen persönlichen Fernseher haben, doch ich habe niemanden, der ihn mir bringen würde. Ich bekomme keine Art von Information, was sich sehr negativ auf meine psychische Gesundheit auswirkt. Je mehr Zeit wir auf diese Weise verbringen, umso mehr verrohen wir. Doch etwas ohne die Hilfe der Freiheit zu verändern, ist einfach unmöglich.
Ich möchte eine Bitte aussprechen, wenn Sie mir helfen können, je nach Ihren Möglichkeiten und ohne mich als Verrückte anzusehen. Diese Bitte bezieht sich darauf, Informationen zu bekommen, damit das Gehirn weiter arbeitet und nicht ganz austrocknet. Vielleicht haben sie Fotobücher, Werbebücher oder andere Broschüren mit Fotos und Erklärungen. Ich würde gern jegliche Art von Information lesen. Dann möchte ich mein Englisch verbessern und andere Fremdsprachen lernen. Es wäre wunderbar, wenn Sie mir kleine Bücher schicken, um Englisch und Italienisch zu lernen. Ich wäre Ihnen ewig dankbar, wenn sie mir ein wenig von Rom erzählen und Bilder schicken.
Bei uns ist es schon sehr kalt. Am 1. Dezember waren es schon -25° und das ist noch nicht der Höhepunkt sondern erst der Anfang. Ich glaube, dass die Temperatur in diesem Winter bis auf -30°, -35° fallen wird. Obwohl sie sagen, dass dieser Winter durch Klimawandel milder sein wird. Der Schnee liegt schon überall. Vom Fenster aus sehe ich nur Schnee, nichts anderes, alles ist von Schnee bedeckt.
Was die Gesundheit betrifft, stehen die Dinge nicht gut, da muss man sich auch nicht wundern, wenn man an das Leben denkt, das man hinter diesen Mauern führt. Die Tuberkulose braucht einige grundlegende Dinge zur Heilung: Vitamine, kalorienreiche Kost, gute Medikamente. Doch oft gibt es nichts von alledem. Wenn man etwas in Bezug auf die Medikamente tun könnte; was die Vitamine und das Essen betrifft, ist es zum Weinen. Doch das macht nichts, ich bemühe mich, dass mein Geist nicht erstickt wird und dass ich stark bin, wie ich kann.
Über unser Leben möchte ich jetzt noch nichts schreiben, da gibt es nichts Schönes und auch nichts Interessantes. Ich habe schon eine so traurige Beschreibung gemacht, dass Ihnen die Haare zu Berge stünden, wenn ich noch mehr schreibe.
Nur noch eine letzte Bitte. Ich bitte Sie, mich gut zu verstehen und meine Bitte großzügig anzusehen. Könnten Sie mir mit dem nächsten Brief einen sauberen Umschlag schicken? Damit ich Ihnen sofort antworten kann. Wir haben viele Probleme mit Briefumschlägen und Briefmarken. Wir sind krank und können nicht arbeiten, wir wissen nicht, wie wir sie besorgen sollen. Ich habe Angst, nicht auf Ihren Brief antworten zu können, weil es keine Briefumschläge und Briefmarken für Briefe ins Ausland gibt. Wir wissen nicht, wo wir die einfachsten und nötigsten Dinge besorgen sollen, ohne die das Überleben schwierig wird. Verzeiht mir mein Elend, ich will mich nicht mehr von Ihnen trennen. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich schäme, Ihnen meine ganze Abhängigkeit zu zeigen. Doch wo kann man das Nötigste finden? Das ist mein Leben. Zurzeit zeigt mir das Schicksal die kalte Schulter, doch ich hoffe, dass es in Zukunft etwas besser werden kann.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, Licht und Güte. Mögen all ihre Träume und Wünsche in Erfüllung gehen, ich wünsche Ihnen Gesundheit und dass das Lächeln niemals von Ihren Lippen verschwindet.
Auf Wiedersehen. Mit Hochachtung
Ihr ehrlicher Freund
A.
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