Amnesty International verzeichnet einen drastischen Anstieg von Hinrichtungen weltweit: Mindestens 1634 Hinrichtungen wurden 2015 durchgeführt. Papst Franziskus hat zur weltweiten Ächtung der Todesstrafe aufgerufen: Wasser auf die Mühlen der katholischen Basisgemeinschaft Sant‘ Egidio. Sie arbeitet darauf hin, dass diese Strafe abgeschafft wird.
Fragen an Pfarrer Dr. Matthias Leineweber (Würzburg), Koordinator von Sant‘ Egidio in Deutschland für die Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe
Frage: Die Gemeinschaft von Sant‘ Egidio setzt sich seit Langem für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Ein Kampf gegen Windmühlen?
Leineweber: Auf keinen Fall. Seit 1998, als Sant‘ Egidio mit dem Einsatz gegen die Todesstrafe begann, hat sich sehr viel verändert. Zahlreiche Länder haben die Todesstrafe abgeschafft. Europa ist mit Ausnahme von Weißrussland der erste Kontinent der Welt ohne Todesstrafe. Auch in Afrika haben viele Länder die Todesstrafe abgeschafft. In den USA, die sicherlich gewisse Vorbildfunktion hat, haben in den letzten sieben Jahren sieben Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft (zuletzt Nebraska im Mai 2015), so dass mittlerweile 19 der 50 Staaten diese Praxis in die Mottenkiste der Vergangenheit verbannt haben. Die Generalversammlung der UNO hat seit 2007 mehrere Male und mit zunehmender Zustimmung eine Resolution verabschiedet, die alle Staaten der Welt zu einem Moratorium und damit auch zur Abschaffung der Todesstrafe aufruft. Solche Resolutionen waren in den 1990-er Jahren noch abgelehnt worden. Also insgesamt zeigt sich eindeutig eine weltweite Tendenz hin zur Abschaffung, auch wenn es einige Ausnahmen gibt.
Papst Franziskus geht in seinem Appell weiter als der katholische Weltkatechismus. Der betont zwar den hohen Wert des menschlichen Lebens, doch ohne in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe auszuschließen. Was muss geschehen, damit die Todesstrafe vor dem Aus steht?
Überzeugungsarbeit ist weiter gefordert. Die Länder mit Todesstrafe müssen einsehen, dass die Todesstrafe ungerecht und nutzlos ist. Sie ist zudem widersinnig, denn der Staat, der eigentlich Tötungen verhindern will, führt selbst staatlich verordnete Tötungen durch. Wie sollen die Bürger dabei eine Verurteilung der Tötung einsehen? Gerade die europäischen Länder wie auch andere Länder, die den Schritt der Abschaffung vollzogen haben, können die Botschaft vermitteln, dass ihre Gesellschaften dadurch nicht größeren Gefahren ausgesetzt wurden, im Gegenteil! Man kann den Teufelskreis der Gewalt nicht durch weitere Gewalt durchbrechen, sondern nur, wenn Alternativen aufgezeigt werden. Jeder Mensch, auch der größte Verbrecher, muss die Chance zur Rehabilitation bekommen.
Gibt es überhaupt Fälle, in denen die Kirche Hinrichtungen für gerechtfertigt hält?
Schon Papst Johannes Paul II. hat gesagt, dass in unserer Zeit faktisch keine Situation mehr vollstellbar ist, die eine Hinrichtung rechtfertigt. Das gilt nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch, weil die Staaten in der modernen Zeit andere Wege haben, um Verbrechen zu verhindern.
In welcher Weise engagiert sich Sant‘ Egidio, um Menschen davon zu überzeugen, dass die Bestrafung durch Hinrichtung Unrecht ist und keine Lösung von Problemen darstellt?
Zunächst durch eine Unterschriftensammlung für einen Appell, der ein weltweites Moratorium der Hinrichtungen fordert. Schon weit mehr als fünf Millionen Unterschriften wurden in etwa 160 Ländern der Erde gesammelt. Jede Unterschrift ist auch eine Gelegenheit zum Gespräch und zur Meinungsbildung. Außerdem führt Sant‘ Egidio jährlich internationale Kongresse mit Justizministern und Vertretern aus Politik und Kultur durch, um einen Austausch zwischen Vertretern aus Ländern mit und ohne Todesstrafe zu fördern. Und um Wege zu einem Justizsystem aufzuzeigen, das immer das Leben des Menschen schützt.
Wie könnte der Besorgnis erregende Trend wieder rückgängig gemacht werden?
Wir leben in einer Zeit eskalierender Gewalt, zahlreicher Konflikte, die teilweise wie in Syrien schon viele Jahre andauern und grausam geführt werden. Auch der Terrorismus schürt Angst und nährt den Kreislauf der Gewalt. Der Einsatz aller Menschen guten Willens für Frieden und Menschlichkeit ist gefordert, der bei jedem selbst anfängt. Papst Franziskus ist immer bemüht, sich für die Gründe der Barmherzigkeit einzusetzen, nicht zuletzt durch das aktuelle Heilige Jahr. Er ist davon überzeugt, dass nur die Barmherzigkeit und nicht Rache oder Hass der gesamten Menschheit einen Weg in die Zukunft ermöglicht.
Warum lassen auch christlich geprägte Staaten hinrichten?
Das ist eine schwierige Frage. Insgesamt zeigt sich zwar, dass immer mehr Staaten mit christlicher Mehrheit die Todesstrafe abgeschafft haben, aber sicherlich gibt es noch viel zu tun. Die Christen aller Konfessionen sind in dieser Hinsicht aufgerufen, die Botschaft des Evangeliums in ihren Ländern deutlicher zu verkünden, die das Leben des Menschen schützt und bezeugt, dass Gott allein der Herr über das Leben ist. Das gilt vom Anfang des Lebens bis zum letzten Augenblick. Die Kultur des Lebens aus dem Geist des Evangeliums muss sich deutlich hören lassen in einer Welt, die oft von einer Kultur des Todes gezeichnet ist.
Mit der Aktion „Städte für Leben“ setzt Sant‘ Egidio weltweit jedes Jahr am
30. November in der Öffentlichkeit ein Zeichen, indem Hunderte bekannter Gebäude an einem Tag angestrahlt werden. Mit Erfolg?
Dieser Aktionstag möchte die Öffentlichkeit sensibilisieren und auf das Thema aufmerksam machen. Seit 2002 hat die Zahl der Städte ständig zugenommen, in Deutschland sind über 150 Städte daran beteiligt. Je mehr Bürger sich für Fragen der Menschenrechte engagieren, umso stärker wird die Bewegung. Dieses Bürgerengagement ist gerade auch in Ländern, die die Todesstrafe noch anwenden, wie in den USA, ein Signal an die Politik, das nicht zu unterschätzen ist.
Ist Sant‘ Egidio mit anderen Gruppierungen vernetzt, die ebenfalls die Todesstrafe ablehnen, wie etwa Amnesty International?
Von Anfang an gibt es einen Verband von Menschenrechtsorganisationen, die sich in der „World Coalition Against the Death Penalty“ zusammengeschlossen haben. Neben verschiedenen Organisationen sind meiner Meinung nach Opfergruppen wichtig, wie die „Journey of Hope“ aus den USA, die als Betroffene von Gewaltverbrechen die Botschaft verbreiten, dass die Todesstrafe den Schmerz über den Verlust eines lieben Menschen nicht lindern kann, im Gegenteil: Sie schafft neue Opferfamilien. Nur Vergebung, so lautet ihre Botschaft, kann zu innerer Heilung und zu einem produktiven Umgang mit erfahrener Gewalt werden.
Sant‘ Egidio hält Briefkontakt mit zum Tode Verurteilten. Gibt es weitere Hilfen für die, die auf ihre Hinrichtung warten, oder für deren Familien?
Wichtig ist die persönliche Zuwendung und Begleitung, um auch einen Weg zu einem Neuanfang und zu einer veränderten Lebenseinstellung einzuschlagen. Die öffentlichen Aktionen und allgemein der weltweite Einsatz sind für viele Todeskandidaten eine Hoffnung. Außerdem werden Todeskandidaten unterstützt, um rechtliche Fragen zu klären. Manchmal konnte auch schon die Unschuld bewiesen werden. Denn leider ist das System der Todesstrafe häufig mit sozialen Ungerechtigkeiten, Vorurteilen gegen Minderheiten, wie zum Beispiel Farbigen, oder anderen Problemen wie Armut verbunden, durch die man sich keinen Rechtsbeistand leisten kann und die Wahrscheinlichkeit viel größer ist, dass ein Fehlurteil gefällt wird. Und bei der Todesstrafe kann leider ein Fehlurteil nicht revidiert werden.
Fragen der Redaktion zusammengestellt von Heike Kaiser