Testimone, Comitato Internazionale di Dachau, Germania
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Sehr geehrte Damen und Herren:
Sehr verehrte Anwesende!
Ich war gerade 23 Jahre alt, als ich 1943 in Auschwitz ankam. Dann kam ich nach Warschau und Dachau (Mühldorf). In dieser Zeit war ich umgeben und bedroht von Brutalität, Gewalt, von Vernichtung und Tod. Die Gesetze von Recht und Unrecht galten nicht mehr. Unter uns Häftlingen gab es in dieser Welt der Unmenschlichkeit kleine Hoffnungszeichen, Reste von Menschlichkeit: eine Suppe, ein Brot teilen, eine wärmere Jacke tauschen, ein gutes Wort, eine Bitte erfüllen. Das sieht nicht nach Heldentaten aus – und doch konnte man alles damit riskieren. Diese Zeichen menschlicher Nähe und Solidarität konnten manchmal eine Hilfe sein, um psychisch überleben zu können, - Zeichen, die aus einer anderen Welt kamen. In Auschwitz konnte ich noch zu Gott beten wie ich es zu Hause gelernt und getan habe.
1945 wurden wir KZ-Häftlinge befreit. Befreit aus der Gefangenschaft – aber waren wir wirklich befreit? Das Menschenbild, das Gottesbild, das Verhältnis von Gut und Böse, das Bild der menschlichen Gesellschaft, - alles war gestört, zerstört, zerbrochen. Wir waren eine normale, friedliche jüdische Familie in einer mährischen, friedlichen Kleinstadt gewesen. Wir hatten uns nichts zu schulden kommen lassen, keinen Widerstand gegen die Obrigkeit, keine Auflehnung gegen Staat und Gesetz. Wir waren nur Opfer, weil wir dem Judentum angehörten. Sechs meiner engsten Familienmitglieder sind in Auschwitz ermordet worden, weil ih¬nen das Existenzrecht abgesprochen wurde. Und doch kann ich nicht hassen oder habe Vergeltungsdrang gespürt. Wäre es anders, hätte ich nicht in das Land der Täter zurückkehren dürfen. Der Wille zur Versöhnung kommt fast selbst¬verständlich, wenn man verantwortlich an die Zukunft denkt, wenn man sich für ein friedli¬ches und menschliches Miteinander einsetzen will. Deshalb betone ich immer wieder, dass ich nicht als Ankläger komme, sondern als Zeitzeuge. Dieser Unter¬schied ist mir wichtig!
Und heute? Teilen wir heute nicht auch nach Rasse und Zugehörigkeit einer Volksgruppe, eines Stammes ein? Grenzen wir nicht aus bei fremden Kulturkreisen und Traditionen? Bewerten wir nicht viel zu oft nach Religionszugehörigkeit – ohne sie richtig zu kennen? Wie gehen wir um mit Andersdenkenden, Menschen mit anderer Hautfarbe? Niemand wird als Rassist oder Antisemit geboren. Diese Barrieren zu überwinden hat mich spätestens meine Lagerzeit gelehrt. Das Böse ist keine Naturgewalt, sondern wird von den Menschen getan. Es ist die freie Entscheidung jedes Einzelnen, wie er handelt, ob gut oder böse.
Seit 25 Jahren bin ich unterwegs, um junge Menschen die destruktive Macht einer Diktatur aufzuzeigen und sie für die Demokratie zu ermutigen, zu stärken. Die Erziehung zur Humanität und zur Anerkennung im Zusammenleben mit Minderheiten fängt in der Familie und Schule an. Der jungen Generation möchte ich mitgeben: Seht nicht weg, wenn andere wegsehen. Zeigt Mut, wenn es darum geht, das Recht eines jeden Menschen und seine Würde zu bewahren. Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.
Persönlich habe ich meine Befreiung gefunden: den Glauben an das Gute im Menschen und die Suche nach Gott.
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