Dankgottesdienst zum 50. Jahrestag der Gemeinschaft Sant’Egidio
10. Februar um 17.30 Uhr in der Lateranbasilika des Hl. Johannes
Die ersten Personen sind 2018 durch die humanitären Korridore in Italien angekommen. Die neue Phase des Projektes, das zum Modell der Gastfreundschaft und Integration für Europa geworden ist
Sarajewo, symbolische multikonfessionale und multiethnische Hauptstadt.
Sarajewo, die Stadt, die über zehntausend ihrer Söhne und Töchter untergehen sah.
Deshalb bestehen die europäische Idee und Mission darin, den Krieg für immer an der Wurzel auszureißen. Und ohne die Europäische Union wird es nie einen dauerhaften Frieden in den westlichen Balkanländern geben, die von der Geschichte so geprüft sind.
Die Zukunft der Europäischen Union. Man darf den Frieden nicht anderswo suchen. Die Geschichte hat uns diese furchtbare Lektion erteilt.
2. Die Haggadah
So wie es uns eine Lektion in der Geschichte war, kam uns glücklich und zur Ehre unserer gesamten Menschheit auch eine andere Lektion zu, die uns gegeben wurde von "jener besonderen Rasse", die aus den Bibliothekaren Sarajewos besteht.
Bibliothekare, die oft um den Preis ihres Lebens aus Flammen und Bombardierungen kostbare Sammlungen retteten, und ganz besonders diesen Schatz, den die Haggadah von Sarajewo darstellt .
Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass mit dem Überleben dieser Haggadah auch das Überleben eines Geistes möglich wurde, eines multiethnischen und mulitkulturellen Wehens.
Diese Haggadah wurde von einer sephardischen jüdischen Gemeinde Spaniens im 14. Jahrhundert hergestellt wurde. In der Folgezeit wurde sie vor einem Autodafé gerettet dank eines katholischen Priesters im Venedig des Jahres 1609.
Sie wurde dann im Jahr 1941 in Sarajewo durch einen Muslim vor den Nationalsozialisten bewahrt, und vor den Bomben während des Bosnienkrieges gerettet von einem Archäologen, auch er war Muslim.
Deshalb ist diese Miniatur-Handschrift, die zu den kostbarsten Handschriften der Welt zählt, für mich wirklich ein lebendiges Symbol für diese außergewöhnliche Stadt.
Diese Haggadah trägt so wie das Schicksal all derer, die sie besessen, behütet und gerettet haben, das Multikulturelle in sich, vom jüdischen Sofer zum Nationalmuseum Bosnien-Herzegowinas, das sie heute beherbergt.
3. Die Bücher
Es gefällt mir, dass dieses Symbol ein Buch ist. Denn wie Jorge Luis BORGES schreibt, "die Welt existiert nur aufgrund eines Buches". Alles endet mit einem Buch, alles führt uns zu einem Buch.
Und alles hat mit einem Buch begonnen, mit Büchern,
mit der Torah, dem Talmud und dem Zohar, der Bibel und dem Koran. Aber auch mit den Werken all derer, die uns "diese Ergänzung der Seele" übermittelt haben, die uns voll und ganz zu Menschen macht, zu Mann und Frau, zu vollkommenen Menschen.
Eine Hommage also an die Bücher, oder vielmehr an die ununterbrochene Auslegung von Büchern. Denn in der Hinterfragung dieser Urtexte, im Prinzip der Auseinandersetzung damit und der Sinnsuche in ihnen, ist die Verschiedenheit angesiedelt, die uns bereichert. Es gibt nämlich nicht nur einen Sinn, und die Unterschiedlichkeit der Bedeutungen, wenn ich so sagen darf, produziert Sinn. Der Fundamentalismus ist genau das sich Abschließen in einem Text, in einer wörtlichen Interpretation eines Textes. In der Zeit vollständiger kommunikativer Transparenz und extremer Zeitverkürzungen, glaube ich, dass es an der Zeit ist, wieder zu einer nuancierteren und komplexeren Lesart zu kommen.
Gemeint ist eine Lesart, die unterstreicht, dass jeder Text mehr sagen kann als das, was er rein wörtlich auszusagen scheint: eine plurale und verschiedenartige Auslegung, nach dem Bild der Verschiedenheit der Religionen.
4. Die Einheit durchdringt die Religionen
Verschiedenheit der Religionen und Glaubensbekenntnisse, die jede Art von Synkretismus oder oberflächlichem Relativismus ausschließt, aber zu einer spirituellen Einheit hin tendiert, mittels derselben Sehnsucht, einer gleichgearteten Suche.
Der Synkretismus besteht im Ansammeln äußerlich betrachteter Elemente, die mehr oder weniger disparat und unmöglich miteinander zu vereinbaren sind. Er ist also eine Art Eklektismus, fragmentiert und inkohärent.
Demgegenüber vollzieht sich die Bewegung hin zur Einheit in ihrer Verschiedenheit existenziell von innen heraus. Von hier aus erwächst das Bedürfnis, die eigene Tradition zu vertiefen, um die Samen jedweder Art von Fundamentalismus auszumerzen.
Es gibt also eine "transzendente Einheit" der wahren religiösen Traditionen, die an ihren Oberflächen verschieden sind, aber vereint sind durch ihren "metaphysischen Kern". Und alle Religionen und humanistischen Philosophien teilen eine sehr einfache spirituelle Erfahrung, auch wenn die Sprache ihrer Traditionen voneinander abweicht in der Art, wie sie diese Erfahrung ausdrücken. Hierin liegt der Grund dafür, dass wir nicht zusammen beten, aber im Gebet miteinander verbunden sind.
Und es liegt mir sehr daran, der Gemeinschaft Sant'Egidio zu danken und sie von ganzem Herzen zu beglückwünschen für die bemerkenswerte Arbeit, die sie zur Verfügung stellt, Jahr für Jahr, um die Menschen im Respekt der Traditionen eines jeden einander anzunähern.
Alle spirituellen Sucher der Welt trinken von derselben Quelle: der Quelle der Liebe und damit des Lebens.
Wie so meisterhaft Frédéric LENOIR in seinem Buch "Die Seele der Welt", das in diesem Sommer erschienen ist, schreibt; ich zitiere:
"Jede Religion ist wie ein Gebirge. Jede ist ein Gipfel, den man besteigen kann. Doch wozu nutzt es, sie miteinander zu vergleichen? Jeder Gipfel ist schön und jeder Weg ist reich an Lehren: Jeder Pfad ist mit Hindernissen gepflastert, die es zu übersteigen gilt und lässt wundervolle Landschaften entdecken. Was zählt ist nicht, diesen Berg zu besteigen, oder jenen, oder wieder einen anderen, sondern dem Weg zu folgen. Und dies mit Aufmerksamkeit zu tun, mit Ausdauer, mit offenem Herzen und einem wachsamen Geist. Es ist nicht der Name des Berges, den wir erklommen haben, der uns verwandelt, sondern die Anwesenheit und die Liebe, die wir in dem Weg gelegt haben. Die Welt ist schön wegen der Verschiedenartigkeit ihrer Länder. Das spirituelle Leben ist schön wegen des Überflusses seiner Wege."
5. Die anderen und die Liebe
Also, ja, wagen wir es, diese Wege zu beschreiten. Diese Wege, die uns alle verpflichten "einen Schritt mehr zu tun", einen Schritt mehr auf die anderen zu , einen Schritt mehr auf eine größere Liebe zu.
Auf die anderen zu, denn weil Gott den Menschen nach seinem Abbild geschaffen hat, dann dazu, dass Letzterer IHN sehen kann im Anblick seines Nächsten. Das Bild Gottes ist der andere.
Einen anderen Menschen zu töten bedeutet also das Zerstören eines Abbildes Gottes und gleichzeitig das Auslöschen des Bildes von sich selbst das der andere uns zurücksendet. Ein Mörder tötet also sich selbst, er entmenschlicht sich.
Auch auf eine größere Liebe zugehen sagte ich, denn die menschliche Liebe ist unbestreitbar der Königsweg zu Gott. Gott ist Liebe.
Erinnern wir un san den Johannesbrief: " Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod." (1 Joh 3,14).
Für diese Liebe, diesen Weg auf den anderen zu und mit ihm ist jeder von uns persönlich verantwortlich.
Wir müssen es daher lernen, einen Tag nach dem anderen, Toleranz, Zuhören, Solidarität und das Teilen auf uns zu nehmen.
6. Die Einwohner Sarajewos
Die Einwohner Sarajewos haben in dieser Hinsicht den anderen Europäern eine schöne Lektion erteilt. Mit eurem Verhalten habt ihr uns daran erinnert, was es bedeutet, Europa zu sein, etymologisch gesehen die Summe der griechischen Wörter "Eurys", was "weit" bedeutet und "Ops", was "Sicht" bedeutet; zusammen ergibt das "Europós". Ihr Einwohner von Sarajewo seid wirklich im Wortsinn "weitsichtig", oder besser, Personen, die über den weiten Horizont Europas verfügen.
Tausende Einwohner Sarajewos sind gestorben, aber ihr Tod wird nicht vergeblich sein. Sie müssen nicht gerächt werden, sondern mit einer harmonischeren Zukunft geehrt werden, mit der Wiederherstellung dessen, was Sarajewo einst war, ein Leuchtturm der Toleranz und Spiritualität.
Frei nach Gandhi würde ich sagen: "Fahrt fort damit, die Veränderung zu sein, die ihr euch in diesem Teil der Welt wünscht", und seid sicher, dass bei der Erfüllung dieser ehrgeizigen Aufgabe die Europäische Union an eurer Seite sein wird - und auch ich persönlich.
Andererseits sagt man, dass wer aus einem Brunnen in Sarajewo trinkt, hierher zurückkehren wird. Ich werde also gerne einige Schlucke daraus trinken!
Ich danke Ihnen.
Hvala {danke}.
[1] Die internationalen Treffen “Menschen und Religionen” sind auf Initiative von Sant’Egidio entstanden, auf den Spuren des Weltgebetstages in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II am 27. Oktober 1986 eingeladen hatte.
[2] 15-20 Minuten auf Französisch, wie von den Organisatoren erbeten
[3] Die Haggadah (die “Haggadah von Sarajewo” genannt wird) ist eine Sammlung von Geschichten, Versen und Gebeten zum großen jüdischen Pessah-Fest. Sie wird nur im Haus gebraucht und ist inspiriert vom biblischen Gebot, das den Eltern aufträgt, ihren Kindern die Geschichte des Exodus zu erzählen. Auf Hebräisch bedeutet Haggadah “Erzählung”. Die Haggadah von Sarajewo ist eines der ältesten illustrierten (was in der jüdischen Tradition eine Ausnahme darstellt) mittelalterlichen Bücher. Sie ist ein wertvolles jüdisches Schriftstück, das im 15. Jahrhunder von der sephardischen Gemeinde in Spanien hergestellt wurde, gegen Ende der Periode der “Convivenza”, in der Juden, Christen und Muslime relativ friedlich zusammenlebten. 1609 gelangte die Haggadah nach Venedig, wo die Eintragung eines katholischen Priesters namens Vistorini sie vor der Autodafé der Inquisition bewahrte. Ungefähr 1890 kam sie auf den Balkan. Dieses jüdische Buch wurde 1941 dank Dervis Korkut vor den Nazis gerettet; er war zuständig für das Nationalmuseum und Muslim. Und ein anderer Muslim, Enver Imamovic, rettete sie vor den Bombardements während des Bosnienkrieges. Die Haggadah von Sarajewo gehört zu den bedeutendsten illustrierten Manuskripten der Welt, ihr Wert wird auf 1,2 Milliarden Dollar geschätzt. Heute befindet sie sich im Nationalmuseum von Bosnien-Herzegovina in Sarajewo.