ANTWERPEN, 8. September. Mehr als 25 Jahre sind vergangen, seit Papst Johannes Paul II. Repräsentanten aller Weltreligionen zu einem gemeinsamen Gebet für den Frieden in der Welt nach Assisi einlud. Seit mehr als 25 Jahren auch hält die 1968 gegründete Gemeinschaft von Sant’Egidio den Geist von Assisi gegen alle Widerstände in der katholischen Kirche lebendig – zumal es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Zeitlang so ausgesehen hatte, als dass der „Zusammenstoß der Kulturen“ kein unausweichliches Schicksal sei.
Nach und nach sponnen die Männer und Frauen der „UN von Trastevere“, wie sie im Vatikan mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung genannt werden, ein Netz von Kontakten zu Religionsführern und Politikern in aller Welt, um Vertrauen entstehen zu lassen. Handfeste Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten. 1992 waren Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft, und Matteo Zuppi, heute einer der Weihbischöfe des Bistums Rom, maßgeblich an dem Friedensschluss zwischen der Frelimo und Renamo im moçambiquanischen Bürgerkrieg beteiligt.
Wie fragil jede Friedensordnung ist, sollte seither nicht nur Zuppi erfahren, der vor wenigen Tagen wieder in Moçambique war, dieses Mal, um vor der Präsidentenwahl zwischen den beiden Parteien zu vermitteln. Über keines der nunmehr 28 internationalen Friedenstreffen der Gemeinschaft haben sich die Schatten von Krieg und Barbarei so sehr gelegt wie über jenes, das am Sonntag in der belgischen Hafenstadt Antwerpen begonnen hat.
So herrschte auch nur dem Anschein nach die heitere Routine der Friedenstreffen, als sich am Sonntagmorgen die Kathedrale von Antwerpen mit buntgekleideten Religionsführern sowie Mitgliedern der Gemeinschaft Sant’Egidio aus allen Kontinenten füllte. Als der Ignatius Aphrem II., syrisch-orthodoxer Patriarch von Antiochien, in seiner Predigt von der drohenden Auslöschung der religiösen Minderheiten im Mittleren Osten sprach, konnte noch so viel Licht durch das gotische Bauwerk fluten – dass die Welt in Flammen steht, war allen bewusst.
Als ob es nicht genug gewesen wäre, an diesem Septembertag an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren und – wie der Antwerpener Bürgermeister Bart de Wever vermerkte – an den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung der Hafenstadt vor den deutschen Besatzern auf den Tag genau vor siebzig Jahren zu erinnern, so war es doch das Grauen dieser Tage, das in den öffentlichen Zeugnissen und vielen persönlichen Gesprächen widerhallte.
Andrea Riccardi selbst war es, der in seinen einführenden Worten die letzten Reste einer Friedensillusion zerstreute. In der Ukraine ist der Krieg auf europäischen Boden zurückgekehrt, politische Ordnungen im Nahen und Mittleren Osten zusammengebrochen, immer mehr Staaten, die das Leben ihrer Bürger nicht mehr zu schützen vermögen, die Eingehung kriegerischer Gewalt mittels internationaler Konventionen durch gezielte Zurschaustellung von Grausamkeiten als Mittel der Propaganda in ein nie dagewesenes Gegenteil verkehrt: Terrorismus als Kult entmenschlichter, oft religiös legitimierter Gewalt. Ist das der Dritte Weltkrieg, der heute Stück für Stück geführt wird, von dem Papst Franziskus kürzlich gesprochen hat?
Wer Vian Dakheel zuhörte, der einzigen weiblichen Abgeordneten im irakischen Parlament, die das Leiden ihres Volkes, der Yeziden, am eigenen Leib erfahren hat, der fühlte sich unversehens in jene Hölle zerfetzter Körper, ausgelöschter Dörfer und eines allgegenwärtigen Todes „vor der Zeit“ versetzt, in die Europa vor hundert Jahren versank. Nicht anders wirkte der Bericht von Ignatius Aphrem II. aus den Ruinen syrischer Städte und den zerstörten Kirchen, in denen Flüchtlinge um ihr Überleben kämpfen. Ungläubiges Staunen hingegen, als Shwaki Ibrahim Abdel-Karim Allam, als Großmufti von Ägypten die höchste religiöse Autorität des sunnitischen Islams, das Wort ergriff. Niemand hatte die höchste Autorität des sunnitischen Islams je so unmissverständlich bestreiten hören, dass man je im Namen des Islam Gewalt ausüben könne.
Eines ist über die Einlassung des Großmuftis hinaus die Botschaft von Antwerpen: Überall in der islamischen Welt sind Scheichs, Imame und Emire bereit, die Perversion ihrer Religion zum Zwecke der Gewalt auch mit Taten zu ächten. Wenn Muhammad Abdul Khadir Azad, der Großimam der Moschee von Lahore in Pakistan, gemeinsam mit Paul Bhatti, dem Bruder des 2010 ermordeten pakistanischen Ministers für Minderheiten, in die Brennpunkte religiöser Gewalt reist, um einen fanatisierten Mob davon abzuhalten, christliche Dörfer zu zerstören; oder wenn christliche und muslimische Autoritäten in Nigeria gemeinsam gegen Boko Haram Zeugnis ablegen und den Teufelskreis aus Armut und Fanatismus durchbrechen wollen, dann wird ein wenig von jenem Frieden sichtbar, den sich jede wahre Religion zum Ziel gesetzt hat.