Die Flüchtlingsfrage bewegt in diesen Monaten ganz Europa. Die europäischen Länder reagieren sehr unterschiedlich und können keine gemeinsame Linie finden. Während die europäische Politik angesichts dramatischer Situationen im Streit gefangen ist, mobilisieren sich die Bürger in zahlreichen Ländern auf unerwartete Weise in der Aufnahme der Menschen auf der Flucht. Andererseits fühlen sich immer mehr Menschen von der Aufgabe, so viele Flüchtlinge und Asylsuchende in die Gesellschaft zu integrieren, überfordert. Erleben wir also derzeit eine „Flüchtlingskrise“, oder ist die Ankunft Hunderttausender eine Chance?
Aus biblischer Sicht haben die Gastfreundschaft gegenüber Ausländern und ihr Schutz einen hohen Stellenwert. Der Fremde soll „wie ein Einheimischer gelten“. Daher hat Papst Franziskus alle Pfarreien, Gemeinschaften, Klöster und kirchlichen Einrichtungen aufgerufen, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Diesen Aufruf haben die deutschen Bischöfe mit den Vertretern der Laien aufgegriffen und sich zum konkreten Engagement verpflichtet.
Der leitende Bischof der VELKD (Vereinigte Evangelisch-lutherische Kirche in Deutschland), Landesbischof Gerhard Ulrich, sagte kürzlich beim Internationalen Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant?Egidio in Albanien: „Als Christen sind wir nicht frei, die Flüchtlinge in Europa nicht aufzunehmen.“
Die Verantwortung wahrnehmen
In diesem Sinne bringt die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge und Asylsuchender die Menschen, die Gemeinden, die Gesellschaft dazu, ihre Verantwortung zu reflektieren. Die Flüchtlinge fordern heraus, ihre physische Anwesenheit konkretisiert den Traum von einer friedlichen und gerechten Welt. Johannes Paul II. war davon überzeugt, dass der heutige „Mensch vor allem am Mangel an Visionen leidet.“ Die Flüchtlinge sind ein Weckruf aus der weitverbreiteten Gleichgültigkeit.
Alle, die sich für Flüchtlinge einsetzen, Hilfsgüter verteilen und ihre Zeit zur Verfügung stellen, machen die Erfahrung, dass sie froh sind. Sie machen die Erfahrung des Wortes Jesu, dass „Geben seliger ist als nehmen“. So verteilt die Gemeinschaft Sant?Egidio Lebensmittel an Flüchtlinge, beherbergt in verschiedenen europäischen Städten Flüchtlinge, gibt seit über 30 Jahren Sprachunterricht und hilft bei alltäglichen Schwierigkeiten. Sant?Egidio macht täglich die Erfahrung der Bereicherung durch die neuen Bürger, beispielsweise indem gemeinsam alleinstehende alte Menschen begleitet werden. Gerade in den vielen persönlichen Begegnungen werden Brücken gebaut und Ängste überwunden. Wie so viele andere lernen wir in den Flüchtlingen hochmotivierte Menschen kennen, die Deutsch lernen möchten, eine Arbeit suchen und so schwer finden, sich eine Zukunft aufbauen wollen.
Das Problem ist nicht, dass das europäische Boot voll ist, sondern dass die Boote der Flüchtlinge voll sind. Und dass zu viele dieser Boote untergehen. Deshalb fordert Sant?Egidio „humanitarian desks“ in Ländern wie Marokko, Äthiopien und im Libanon, wo Menschen mit Anspruch auf internationalen Schutz humanitäre Visa erhalten, um sicher nach Europa zu kommen und ihr Asylverfahren durchzuführen.
Und noch ein Schritt ist erforderlich. Der Blick muss auch auf die Ursachen der Flüchtlingsströme gelenkt werden: Die Kriege in Syrien, Libyen und im Irak, Terrorismus wie in Nigeria, unerträgliche politische Verhältnisse wie in Eritrea. Angesichts der Kriege stellt sich die Frage: Wo ist die Friedensbewegung, die wir noch 2003 auf den Straßen Europas gesehen haben? Es fehlt an diplomatischen Initiativen für die Beendigung der Kriege. Die letzten Jahre zeigten, dass eine militärische Option keine Konflikte lösen kann, sondern sie nur verschlimmert und am Ende zu chronischer Anarchie wie in Somalia führt. Alles muss versucht werden, um in Syrien Friedensverhandlungen zu führen und Sicherheitszonen einzurichten als Vorstufen für dauerhaften Frieden.
Wer den Exodus der Menschen beenden will, muss ernsthaft für den Frieden arbeiten. So hat Sant'Egidio die Erfahrung gemacht, dass in Zeiten, in denen selbst eine kleine Gruppe Krieg und Terror verbreiten kann, auch eine kleine Gruppe Frieden schaffen kann: Von 1990 bis 1992 fanden unter Vermittlung der Gemeinschaft Sant?Egidio in Rom die Friedensverhandlungen für Mosambik statt, die zur Unterzeichnung des Friedensvertrags führten.
Auch Armutsflüchtlinge haben Würde
Schließlich ist das Elend in den Ländern Afrikas eine weitere Fluchtursache. Eine politische Sprache, die Armut als Fluchtgrund abwertet oder Wirtschaftsflüchtlinge kriminalisiert, richtet gesellschaftlichen Schaden an, denn sie banalisiert Armut. Auch wenn Armutsflüchtlinge nicht unter das Asylrecht fallen, sind sie doch Menschen mit einer unantastbaren Würde. Die politischen Absichtserklärungen, mehr für die Beseitigung der Fluchtursachen zu tun, dürfen sich nicht in Sonntagsreden erschöpfen. Was politischer Wille möglich macht, zeigte sich, als Europa zur Bewältigung der Finanzkrise intensivste politische Aktivitäten entfaltete und enorme Geldmengen für Griechenland mobilisierte. Im Ukrainekonflikt ringt man in diplomatischen Initiativen um eine Lösung.
So wie Papst Franziskus die Gläubigen direkt aufforderte, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen sich auch die Kirche, die Gesellschaft, der Kontinent Europa öffnen und integrieren. Der ängstliche Versuch, die Gesellschaft durch die Errichtung juristischer und physischer Mauern homogen zu halten und zu schützen, ist ein Mythos. Angst ist nie ein guter Ratgeber, sondern ein deutlicher Indikator für die Schwäche der eigenen Identität. Die Zukunft ist nicht die Homogenität von Gesellschaften, sondern das Zusammenleben. Wir können es schaffen, das zeigt die Erfahrung von 25 Jahren deutscher Einheit, und eine weitere Erfolgsgeschichte schreiben.