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Tagesspiegel

Meitheamh 19 2017

Flucht und Recht

Wir brauchen ein Menschenrecht auf Einreise

 
leagan inphriontáilte

 Sicherheit für Menschen, die aus Bombenhagel, vor Mörderbanden oder Verfolgung fliehen, ist auf legalem Weg kaum erreichbar. Sie werden in die sogenannte "irreguläre Migration" getrieben, die gleichzeitig bekämpft werden soll. Bekämpft wird so nur eines: die Menschen auf der Flucht.

 

Fortschritt im Bereich der Menschenrechte und des internationalen Rechts kommt selten zustande, weil jemand eine gute Idee hat. Fortschritt im Bereich der Menschenrechte und des internationalen Rechts wird aus Krieg, Elend, Krisen geboren. Menschenrechte folgen auf Menschenelend. So ist das 20. Jahrhundert mit seinen großen Menschheitsverbrechen auch zu einem Jahrhundert der Weiterentwicklung des internationalen Rechts geworden, von der Gründung der Vereinten Nationen über die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bis zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs.

Im Jahr 2016 waren weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte, etwa 37 Millionen davon als intern Vertriebene, ein neuer Höchststand seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine moralische Obergrenze ist damit längst erreicht. Sie stecken in Krisen- und Kriegsgebieten fest; sie müssen ihr Leben riskieren, um über das Meer nach Europa zu gelangen. Schleuser verdienen Geld, mit dem ihre Organisationen dann weiter die Konflikte schüren, die die Flüchtenden produzieren. Alte, Kranke, Behinderte schaffen es gar nicht, herauszukommen. So kann es nicht bleiben.

Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits an einer Vereinbarung mit der Türkei gearbeitet, um die Migrationsbewegung über die sogenannte Balkanroute besser in den Griff zu bekommen. Diese enthält viel Positives, etwa in Form der Unterstützungsleistungen für Geflüchtete im Land oder die Möglichkeit von Kontingenten. Nicht enthalten ist aber eine ausdrückliche Verpflichtung der Türkei, Menschen aus den Krisengebieten jenseits der Grenze tatsächlich weiterhin ins Land zu lassen. Der gemeinsame Aktionsplan, auf den sich die beiden Partner zuvor im Oktober geeinigt hatten, enthielt noch eine Passage (I.5), wonach die Türkei intendiere sicherzustellen, dass schutzbedürftige Personen weiterhin identifiziert und versorgt werden.
Im November wurde dann zwar beschlossen, diesen Aktionsplan in Kraft zu setzen. Der Fokus war aber verrutscht. Nun hieß es: „Insbesondere bei der Eindämmung des Zustroms irregulärer Migranten müssen Ergebnisse erzielt werden.“ Die Zielsetzung war also – wie allgemein in der Ausrichtung der europäischen Migrationsagenda – auf Abwehr statt auf Gestaltung von Migration gerichtet. Die (langfristige) Verbesserung der Situation geflüchteter Menschen war nicht Ausgangspunkt der Verhandlungen und wird so bestenfalls zum Nebenprodukt.

So wird in der abschließenden Erklärung vom März 2016 schließlich festgehalten, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten „mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sicheren Zonen leben können“. Es geht also um Sicherheit, aber jenseits der Grenze. Substantielle Vorschläge oder gar Maßnahmen, die diese Absicht tatsächlich praktisch werden lassen sollen, sind nicht bekannt.
Syrerinnen und Syrer benötigen seitdem wieder ein Visum, um in die Türkei zu gelangen. Ob die Stellen, die ihnen diese Visa ausstellen könnten, für sie erreichbar sind, steht nicht zur Debatte. Die Grenze selbst wurde durch die Türkei geschlossen, wie Staatsminister Roth am 19. September 2016 an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion schreibt. Geflüchtete stehen wie andernorts vor Mauern, Zäunen und Stacheldraht und geraten zwischen die innertürkischen und türkisch-kurdischen Konfliktlinien und damit im Zweifel in Lebensgefahr: Berichten von Nichtregierungsorganisationen zufolge, wird an der Grenze auch geschossen.

Wie in dieser Lage das international vereinbarte Non-Refoulement, also die Nicht-Zurückweisung von Menschen auf der Flucht, umgesetzt werden soll, ist offen. Sicherheit für Menschen, die aus Bombenhagel, vor Mörderbanden oder Verfolgung fliehen, ist auf legalem Weg kaum erreichbar. Sie werden in die sogenannte "irreguläre Migration" getrieben, die  gleichzeitig bekämpft werden soll. Bekämpft wird so nur eines: die Menschen auf der Flucht.
Wie dieses aktuelle Beispiel zeigt, hat die internationale Gemeinschaft genau dort eine Leerstelle, wo die Not am existenziellsten ist, nämlich dort wo das Leben von Menschen bedroht ist und sie zur Flucht gezwungen sind. Das Beispiel zeigt auch, dass eine tragfähige Lösung nicht in einer konkreten Verhandlungssituation erreicht werden kann, in der unterschiedliche, auch themenfremde Interessen konkurrieren und außerdem von der Entwicklung der konkreten Ausgangssituation entlang der Verhandlungen abhängen.

Was es braucht, ist eine generelle Lösung, also eine (Neu-)Kodifizierung von internationalem Recht zugunsten Schutzbedürftiger. Welche Möglichkeiten bestehen hierfür?

Ein Vehikel wäre eine Erweiterung der anerkannten Fluchtursachen oder – neutraler – der Fluchtgründe. Schon heute sind nationale Asylsysteme überlastet mit einer Vielzahl von Fällen, denen von vornherein die Aussicht auf Anerkennung fehlt. Umgekehrt: Wenn künftig der Klimawandel zum wichtigsten Fluchtgrund zu werden droht – im Übrigen einmal mehr provoziert durch Verhaltensweisen der sogenannten entwickelten Welt – werden sich Menschen so oder so auf den Weg machen. Wer das – eng verstandene – Recht auf politisches Asyl erhalten will und sich überdies den Realitäten stellt, muss Regelungen finden für das, was ansonsten ungeregelt stattfinden wird.

Solche Regelungen finden sich bisweilen an unvermuteter Stelle. Bereits im Jahr 2008 wurde in Ecuador - “Lateinamerikas Avantgarde” - die Visumfreiheit für alle Ausländerinnen und Ausländer verkündet. Die siegreiche APAIS hatte bereits in ihrem Wahlmanifest 2006 ein transnationales Verständnis von Staatsbürgerschaft beworben: Die in der Verfassung verankerte Migrationspolitik des Landes fußt auf dem Konzept der “menschlichen Mobilität”. Nach Art. 416 soll der Ausländerstatus enden. Alle hätten demnach auf ecuadorianischem Territorium die gleichen Rechte. Dies betrifft auch diejenigen, die, vornehmlich aus Kolumbien, nach Ecuador fliehen.
Immerhin nimmt Ecuador im lateinamerikanischen Maßstab die meisten Flüchtlinge auf, wenn auch in der Praxis Probleme in der Versorgung und gesellschaftlichen Teilhabe bestehen. Aufgrund fehlender Ausführungsgesetze lassen sich die Wirkung der vorgestellten Bestimmungen nicht abschließend bestimmen. Aber auch auf dem gegenwärtigen Stand handelt es sich um ein interessantes und innovatives Modell, das größere Beachtung verdient hat.

Die große Lösung. Artikel 13 Satz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: "Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren." Dieses Recht beschreibt einen großen Rechtsfortschritt seiner Zeit. Aber dieses Recht läuft ins Leere. Es ist formuliert wie eine Starterlaubnis für ein Flugzeug, dem anschließend die Landeerlaubnis verweigert wird. Es fehlt das – im Wortsinn – notwendige Gegenstück, nämlich das gleichermaßen gewährte Recht, in ein anderes Land aufgenommen zu werden. Dieses Recht würde lauten, eingefügt als neuer Satz 3, "Jeder hat das Recht, in einem Land aufgenommen zu werden", mindestens jeder, der in sein Land nicht zurückkehren kann. Ein solcher Satz würde die Menschenrechte dort platzieren, wo sie hingehören, nämlich an die Spitze des Rechtssystems.
So wie in den internationalen Beziehungen das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten zunehmend konfrontiert wird mit dem Prinzip der Verantwortung zum Schutz von Menschen (responsibility to protect). Menschenrecht steht über Staatsrecht. Staaten dienen Menschen, sie stehen nicht über ihnen. Wenn Menschen in Not geraten, dann müssen wir helfen, soweit es in unserer Macht steht. Können wir für eine solche Position auf die Unterstützung der Menschen bauen, die die Fliehenden aufnehmen müssten? Ich bin der Überzeugung, dass eine Mehrheit der  Menschen in den potenziellen Aufnahmeländern den Schutzbedürftigen helfen würde, wenn einige Voraussetzungen gegeben wären.

Einen Bruder im Geiste durfte ich an einem Mittwochabend im März 2015 treffen: Mario Marazziti, den damaligen Vorsitzenden des italienischen Menschenrechtsausschusses. Er war lange für die Comunitá Sant Egidio unter anderem aktiv in internationalen Friedensmissionen. In Sant´ Egidio in Rom wurden die Überreste einer Christusfigur gefunden, das Kreuz und die Arme fehlen. Sie wird verehrt als der „ohnmächtige Christus“. Die Gründer der Gemeinschaft von Sant´ Egidio haben sich vorgenommen, die fehlenden Arme zu „ersetzen“, indem sie selbst als Arme Christi in der Welt zu wirken versuchen – ein schönes Bild.
Mit Mario habe ich verabredet, dass wir eine gemeinsame Initiative zur europäischen Flüchtlingspolitik starten. Er hat es ungefähr so gesagt: „Ein Europa, das zulässt, dass die Menschen an seinen Grenzen sterben, ist kein Europa.“ Dem stimme ich mit vollem Herzen zu. Die Comunità St. Egidio in Rom wollte es nicht mehr hinnehmen, dass Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ertrinken. Gemeinsam mit kirchlichen Partnerorganisationen und der italienischen Regierung hat sie Ende 2015 ein Abkommen geschlossen, das es ermöglicht, dass Flüchtlinge legal ins Land kommen.

Besonders Schutzbedürftige Menschen wie Schwerkranke, Flüchtlingskinder und -frauen aus Marokko, dem Libanon und Äthiopien haben ein sogenanntes “Visum aus humanitären Gründen” ausgestellt bekommen. Mit Flugzeugen wurden sie sicher nach Italien gebracht und dort versorgt. Der italienische Staat prüft die Anträge im Voraus und stellt dann die Dokumente aus. Die Kosten tragen die beteiligten kirchlichen Organisationen. So konnten bisher 1000 Personen in Sicherheit gebracht werden.
Es ist schon bemerkenswert, dass, vergleichbar der Situation in Deutschland, zivilgesellschaftliche Akteure oder einfach Einzelpersonen mit Herz und Verstand vormachen, wie konkrete Hilfe und Lösungen aussehen könnten. Wo sich die Dinge international verhaken, kann die Initiative von unten kommen.

Gesine Schwan hat einen Vorschlag gemacht, bei dem nicht Europa, der Bund oder die Länder Geflüchtete aufnehmen würden, sondern die Kommunen. Gemeinden, die freiwillig mehr Geflüchtete aufnehmen, sollen demnach nicht nur die Kosten erstattet bekommen, sondern zusätzlich Mittel zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur bekommen. Dieser Vorschlag ist menschlich, vernünftig und pragmatisch zugleich.
Damit Schwans Ideen umgesetzt werden können, muss es einen offensiven Dialog über die Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik geben. Die Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung ist riesig. Sie wagen mehr Demokratie, indem sie unaufgefordert und spontan gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig gibt es Fragen: Wie geht es weiter? Wie steht es um die Sicherheit? Was wird gebraucht für gelingende Integration? Wie kann die langfristige Zuwanderungspolitik gestaltet werden? Wie werden wir unserer humanitären Verantwortung gerecht? Welche Unterstützung brauchen diejenigen, die zu uns kommen, und was erwarten wir von ihnen? Wo sollen sie unterkommen, reicht der Platz in den Kindergärten, was ist mit den Alten, Kranken, Behinderten?

Diese Fragen sollten in einen breiten, wahrnehmbaren öffentlichen Dialog gestellt werden. Denn es sind alles gute Fragen, und wir haben bisher gar nicht mal auf alle so gute Antworten. Ich bin überzeugt, wenn wir das offen zugäben, würden wir nicht Häme ernten, sondern die Menschen motivieren, uns bei der Antwortsuche zu helfen. Und dann kann es auch (besser) gelingen.
Die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland ist unterhalb des Königsteiner Schlüssels sehr ungleich. Hinzu kommt, dass sich auch die sonstige Zuwanderung auf bestimmte Regionen oder Städte konzentriert. Die Menschen in Deutschland sagen in ihrer großen Mehrheit Ja zu Hilfe für Schutzsuchende. Die Integrationskraft kann gestärkt werden, wenn man sie auch aktiver an der Ausgestaltung beteiligt, statt nur ihr ehrenamtliches Engagement zu belobigen oder manchmal sogar anstrengend zu finden, weil man im Rathaus auch so genug zu tun hat und diese ganzen Leute immer so schrecklich viele Fragen haben und sich in alles einmischen.

Schließlich: Überall, wo Menschen neu aufeinander treffen, muss das Zusammenleben eingeübt werden: im Wohnblock, im Stadtteil, in der Gemeinde oder Stadt. Angelehnt an das Projekt „Wiener Charta“ braucht es ein Modell „Charta für gutes Zusammenleben”. In meiner Heimatstadt erprobe ich es derzeit als “Wieslocher Handschlag”. Deutschland soll zum Modell für gutes Zusammenleben in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft werden und so in Europa und darüber hinaus Mut machen, wo sich Nationen mit Veränderung schwer tun.
Neben diesem Prozess braucht es auch Orte der Begegnung. Der Begegnung mit anderen, nicht mit denen, die da immer sind. Der echten Begegnung, nicht des nebeneinander bis gegeneinander. Wo Menschen sich begegnen, kennenlernen und Beziehungen aufbauen, schwinden Ängste und Vorurteile. In unserer ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es aber immer weniger Plattformen, auf denen man alle Bevölkerungsgruppen beisammen hat. Sie müssen – vom Dorfgemeinschaftshaus über BürgerInnentreffs oder Interkulturelle Cafés – organisiert, entsprechend unterstützt und in ihrem integrativen Ansatz gestärkt werden. Auf einer solchen Basis ist Aufnahmebereitschaft kein Thema - ohne die Nutzenargumente rund um den demographischen Wandel, den Fachkräftebedarf oder Schrumpfung bemühen zu müssen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird im kommenden Jahr 70 Jahre alt. Sie ist, wie es der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio formulierte, “der größte historische Beweis für den ‘consensus omnium gentium’ hinsichtlich eines bestimmten Wertesystems”. Sie ist eigentlich ein Wunder. Erstmals wurde “ein System von grundlegenden Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens in freier Entscheidung angenommen”. Gleichzeitig ist sie historisch bedingt, unvollständig, bedarf der Weiterentwicklung. Sie könne “hinsichtlich der Quantität und Qualität der (...) aufgezählten Rechte keinerlei Anspruch auf Endgültigkeit erheben”, so Bobbio. Das Leid in der Welt mahnt uns: Das Zeitalter der Menschenrechte hat erst begonnen.