Ehemaliger Oberrabbiner von Irland, AJC, Israel
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Wir können heute vielleicht besser als je zuvor sehen, wie Religion sowohl Segen als auch Fluch sein kann; wie sie Inspiration für die größten Anstrengungen zugunsten des Wohls der Menschheit sein kann als auch ein Werkzeug von Hass und Gewalt.
Die Trennungen heute verlaufen weniger zwischen Religionen als vielmehr innerhalb der Religionen – zwischen jenen einerseits, die Religion für gegensätzliche Zwecke missbrauchen wollen, und andererseits denjenigen, die durch ihr jeweiliges religiöses Erbe inspiriert werden, anderen in Freundschaft entgegen zu gehen und sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft zu respektieren.
Auch, wenn wir heute mehr als je zuvor schreckliche Gräueltaten im Namen der Religion sehen, können gerade die unter uns, die sich im interreligiösen Dialog engagieren, bezeugen, dass es nie zuvor in der Menschheitsgeschichte so viel Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlichen Religionen gab, zum Wohl der gesamten Gesellschaft.
Die Weisen des Talmud (Traktate von Gittin) vor fast 2000 Jahren erklärten, dass die ganze Torah – das ganze Judentum – für den Frieden ist. Und der Text fährt damit fort, die „Wege des Friedens“ zu beschreiben. Diese erfordern von uns zum Beispiel, „die Kranken anderer, sogar der Heiden, zu besuchen; ihre Toten mit unseren zu begraben; für ihre Armen mit unseren zu sorgen“ – das alles, um der „Wege des Friedens“ willen.
Maimonides zitiert diesen Text in seinem Traktat über jüdische Ethik (Yad Hahazakah, “das Gesetz der Könige”, Kap. 10, Sekt 1I) und unterstützt ihn mit zwei Versen aus der Schrift: Es steht geschrieben „der Herr ist gütig zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken“ (Ps 145,9), und es steht auch geschrieben „ Ihre (der Torah) Wege sind liebliche Wege, und alle ihre Steige sind Frieden“ (Spr 3,17). Der zweite dieser Verse aus dem Buch der Sprüche wird im originalen Text des Talmud zitiert und bestätigt, dass das Ziel der Religion der Friede ist, nicht nur unter uns, aber vor allem in den Beziehungen zu denen, die anders sind als wir; und er impliziert damit, dass wir unserer Religion nicht treu sind, wenn unser Handeln nicht den Frieden fördert.
Doch warum fügt Maimonides auch den Vers aus Psalm 145, „sein Erbarmen waltet über all seinen Werken“ hinzu? Maimonides bezieht sich auf die theologischen Grundlage für richtiges Verhalten, das heißt die erhabene Lehre der Torah der Imitatio Dei (Lev 19,1): am Herrn festzuhalten (Deut 10,20) und ihm zu folgen (Deut 13,5).
Die jüdische Tradition versteht das so, dass man den göttlichen Eigenschaften der Barmherzigkeit, liebevollen Freundlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Vergebung – soweit es dem Menschen möglich ist – nacheifern soll. Mit den Worten von Abba Shaul, „wie er barmherzig und voller Mitleid ist, so sollt auch ihr barmherzig und voller Mitleid sein (Mekhilta, Gesänge 3)
In ähnlicher Weise erläutert der Babylonische Talmud, “wie der Herr den Nackten kleidet, wie Er es mit Adam und Eva getan hat, so sollt ihr die Nackten kleiden. Wie der Herr die Kranken besucht hat, wie Er es mit Abraham tat, so sollt auch ihr die Kranken besuchen. Wie der Herr die Trauernden tröstet, wie Er es mit Isaak getan hat, so sollt auch ihr die Trauernden trösten. Wie der Herr die Toten begräbt, wie Er es mit Moses getan hat, so sollt auch ihr die Toten begraben“ (Traktate Sotah 14a).
Dementsprechend erinnert und Maimonides daran, dass wir, ebenso wie Gottes “Erbarmen über all seinen Werken” waltet, diesem Mitleid mit allen nacheifern müssen, besonders (wie die Torah selbst betont) gegenüber den Verletzlichen – und nicht nur den Verletzlichen unserer eigenen Gemeinschaft, den Armen, den Waisen und Witwen, sondern auch uns besonders den Fremden, den Menschen anderer Gemeinschaften. Wie wir uns denen gegenüber benehmen, die anders sind als wir, ist der beste Test, ob wir den Wegen des Friedens folgen oder nicht; und die Wege des Friedens sind die Wege Gottes. Wir sind nur wirklich religiös, wenn wir auf Seinen Wegen gehen; wenn wir diesen Wegen zum Frieden folgen.
Wer die Religion missbraucht, um Trennung, Hass, Feindseligkeit und Gewalt zu rechtfertigen, liebt Gott nicht wirklich. Sie sind die absoluten Feindes Gottes und der Religion und Dienen den Plänen Satans.
Für Juden, Christen und Muslime ist Abraham der Prototyp des ethischen Monotheists, der auf den Wegen Gottes geht. In Gen 18,19 spricht Gott von Abraham und sagt: “ Denn ich habe ihn dazu auserwählt, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm aufträgt, den Weg des Herrn einzuhalten und zu tun, was gut und recht ist“. Dementsprechend wird Abraham in unserer Tradition als „Freund Gottes“ bezeichnet, oder genauer mit den Worten des Propheten Jesaja “Abraham, mein Geliebter” – Abraham, der Geliebte Gottes. Abraham repräsentiert die grundlegende Bedingung für wahren Frieden, den Geist der Gastfreundschaft.
Genesis 18, 1 beschreibt Abraham, “während er an der Tür seines Zeltes saß” und nach Reisenden Ausschau hielt, um ihnen Gastfreundschaft anzubieten; „er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen“. Abraham entdeckt in der Folge, dass sie göttliche Boten sind, Engel, die gekommen sind, um ihm den göttlichen Segen eines Nachkommens anzukündigen.
Zwei dieser Boten gehen weiter nach Sodom, um die Stadt vor ihrer drohenden Zerstörung zu warnen und Lot und seine Familie zu warnen. Das nächste Kapitel von Genesis beginnt mit den Worten: „Die beiden Engel kamen am Abend nach Sodom.” Ein Chassidischer Meister fragte, warum sie in der Begegnung mit Abraham nur als „Männer“ bezeichnet werden, aber als „Engel“, wenn sie nach Sodom gehen. Die Antwort des Rabbis war, dass sie sich nicht als Engel offenbaren mussten, weil Abraham den Engel in jeder Person sah – denn jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes erschaffen.
Gastfreundschaft bedeutet, die Hand auszustrecken und den anderen willkommen zu heißen. Das bedeutet auch, auf seinen Schmerz und seine Bitte um Gerechtigkeit und Sicherheit antworten zu können. Vor allem bedeutet es, seine oder ihre Menschenwürde zu respektieren.
Als gläubige Menschen auf andere zuzugehen, im Namen unseres jeweiligen Glaubens, ist besonders wichtig. So können wir die gegenseitige Fremdheit überwinden, die uns belastet, und unseren Werten und dem Beispiel Abrahams, unseres gemeinsamen Vaters, treu sein.
Die Gemeinschaft Sant’Egidio trägt nicht nur die Fackels des Geistes von Assisi, sie verkörpert auch das religiöse Streben nach Frieden durch ihre Arbeit mit den Schwachen und Bedürftigen, den Fremden und Reisenden und durch den Geist der Gastfreundschaft, der in diesen jährlichen Treffen zum Ausdruck kommt – nicht nur physische Gastfreundschaft, sondern vor allem die psycho-spirituelle Gastfreundschaft der Akzeptanz und des Respekts (ganz zu schweigen von der Arbeit für Versöhnung und Frieden in internationalen Beziehungen). Sie inspiriert uns damit alle, den göttlichen Wegen des Friedens zu folgen, die nicht nur möglich sind, sondern das erhabene Ziel und Telos unserer Glaubenstraditionen.
Um es mit den wunderschönen Worten des Heiligen Johannes Paul II zu sagen: “Wir Christen, Juden und Muslime als Kinder Abrahams sind gerufen, ein Segen für die Welt zu sein. Um das zu werden, müssen wir zuerst füreinander ein Segen sein.“ Mögen wir alle erfolgreich darin sein, ein Segen des Friedens füreinander und für die ganze Welt zu sein.
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