Henny Ullmann aus der Reibeltgasse im Reurerviertel arbeitete in der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt. 1938 verboten die Nazis die „ILBA“, und Ullmann, 34 Jahre alt, tat das Klügste, was eine Jüdin in diesen Zeiten tun konnte: Sie flüchtete, nach Palästina.
Dort plagte sie die Angst um die Lieben in der Heimat, und Ullmann kehrte zurück nach Würzburg.
Als die Nazis und ihre Mitläufer vor 75 Jahren, am 27. November 1941, 202 jüdische Würzburger – Frauen, Kinder und Männer – durch die Stadt zum Bahnhof in der Aumühle trieben, war Ullmann dabei. Vorgesehen war sie für diese erste Deportation jüdischer Mainfranken nicht. Sie hatte sich freiwillig gemeldet, um sich um ihre Leute kümmern zu können.
Seit 15 Jahren gehen Würzburger Ende November, aufgerufen von der Gemeinschaft Sant?Egidio und der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg, im Dunkeln ein Stück des Weges, den die Juden damals gingen.
Rund 300 waren es diesmal, unter ihnen der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, Rabbi Jakov Ebert, Bürgermeister Adolf Bauer, Bischof Friedhelm Hofmann und Weihbischof Ulrich Boom und die evangelische Dekanin Edda Weise – und auch einige Flüchtlinge und Muslime. Ihr Weg führte vom Domvorplatz durch Schönbornstraße und Juliuspromenade bis zum Mainfranken Theater.
Der Zug stand unter dem Eindruck der politischen Entwicklungen im vergangenen Jahr. Hass und Hetze im Internet, extremistischer Terror auch in Würzburg, die Feindseligkeit gegen Geflüchtete und ihre Helfer waren Themen der Redner. In allen Reden schwang die Sorge mit, dass die Gräuel wiederholt werden könnten, wenn man sie vergisst.
Hofmann erinnerte an „neue Ausbrüche von Populismus und Antisemitismus“. Ähnlich wie später Schuster bezeichnete er das Erinnern an die Taten der Nazis für einen „wichtigen Auftrag, denn das gesellschaftliche Klima ist nicht einfach“.
Weise hält die Demokratie im Land für stabil, meinte aber, dass ständig für sie geworben werden müsse. Menschen- und Minderheitenrechte müssten geachtet. Das Erinnern sei nötig, weil es eine „lebensfreundliche Gesellschaft“ erst möglich mache.
Schuster berichtete auf der Schlusskundgebung vor dem Theater vom „Weg voller Demütigungen, Gewalt und schrecklicher Angst“, den die jüdischen Würzburg vor 75 Jahren gingen. Die meisten hätten gewusst oder geahnt, was sie erwartet.
„Wie konnte es sein“, fragte er, „dass Menschen andere Menschen aus dem öffentlichen Leben ausschließen, mit einem gelben Stern kennzeichnen, in Züge verfrachten, zu Nummern machen und schließlich ermorden – nur weil sie Juden sind?“ Schuster sieht politische und religiöse Extremisten weltweit wieder an Einfluss gewinnen. „Mörderische Ideologen“ wie des sogenannten Islamischen Staates fänden leider auch unter jungen Europäern Gehör. Hass und Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende nähmen zu, „egal, ob es gegen Juden, Sinti und Roma, gegen Homosexuelle oder gegen Flüchtlinge“ gehe.
Autoritäre Führer bauten ihre Macht aus, rechtspopulistische Parteien gingen überall in Europa auf Stimmenfang und böten „scheinbar einfache Lösungen für schwierige Probleme“ an.
„Wir“, so sagte er, hätten es immer für selbstverständlich gehalten, in einer Demokratie zu leben. Aber wenn wir nicht die Menschenrechte achteten und die Minderheiten schützten, sei dieser Zustand nicht garantiert. Wenn Stimmung gemacht werde gegen Muslime „oder sogenannte Eliten“, dann seien „früher oder später auch andere Minderheiten, wie Juden, gemeint“.
Zwei von 202 überlebten die Deportation vom 27. November 1941. 2063 jüdische Mainfranken hatten die Nazis in sechs Zügen von Würzburg aus in die Vernichtungslager geschickt.
Henny Ullmann hielt lange durch. Aber 1945, kurz vor Kriegsende, starb auch sie im KZ Stutthof bei Danzig.
Wolfgang Jung
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