Würzburg (POW) „Wir gehen diesen Weg seit 16 Jahren mit schweren Herzen. Es ist für mich unfassbar, dass dieses den 202 Menschen in ihrer Heimatstadt geschehen konnte.“ Anlässlich der ersten Deportation von Juden aus Würzburg im Jahr 1941 haben am Montagabend, 27. November, Dr. Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, und weitere Redner davor gewarnt, wohin die Ausgrenzung von Menschen führen kann. Zugleich forderte Schuster die Parteien dazu auf, zwei Monate nach der Bundestagswahl ihre politische Verantwortung wahrzunehmen. „Eine Neuwahl würde der populistischen AfD womöglich noch mehr Wähler zutreiben.“ Vom Domvorplatz zogen rund 300 Personen im strömenden Regen schweigend mit Kerzen zum Mainfrankentheater, an dessen Stelle sich damals die Schrannenhalle befand. Organisiert wurde die Gedenkveranstaltung von der Gemeinschaft Sant’Egidio und der Israelitischen Kultusgemeinde, Mitveranstalter waren der Katholische Dekanatsrat Würzburg-Stadt und das Dekanat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Würzburg.
„Erinnerung an die Vergangenheit ist eine Aufgabe für alle im Blick darauf, dass so etwas in der Zukunft nicht mehr geschieht“, sagte Pfarrerin Susanne Wildfeuer vor dem Kiliansdom. Die Realität sehe anders aus. „Das Schicksal der Rohingya in Myanmar zeigt, dass jederzeit Menschen ausgegrenzt werden, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder zu einer Religion.“ Das Schicksal der deportierten Juden mahne dazu, „den Anfängen zu wehren, wenn wieder Menschen aufgrund ihrer Nationalität oder ihres Glaubens ausgegrenzt werden. Ihr Schicksal mahnt uns, gegen antisemitische Parolen unsere Stimme zu erheben. Wir dürfen nie mehr zulassen, dass Menschen, die unser Leben teilen, aus irgendeinem Grund bedroht, verängstigt, diskriminiert oder hinausgedrängt werden.“
Pfarrer Werner Vollmuth, stellvertretender Stadtdekan, erzählte von einer Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht in den 1980er Jahren in seiner ersten Pfarrei. Eine alte Frau habe sich daran erinnert, wie die jüdischen Mitbürger abtransportiert wurden, und gesagt: „Aber man konnte ja nichts machen.“ Das sei das Grundproblem, sagte Vollmuth. „Die Tatsache, dass Menschen die Not sehen und wegschauen, ist das Problem.“ Er forderte dazu auf, aufeinander zuzugehen. „Es kommt darauf an, dass wir menschlich miteinander umgehen und bereit sind, füreinander einzustehen. Dieser Abend ermahnt uns, wie wichtig es ist, aus der Vergangenheit zu lernen und in der Gegenwart menschlich miteinander umzugehen.“
Zentralratsvorsitzender Schuster erinnerte daran, dass am 27. November 1941 202 Würzburger Juden aus ihren Häusern geholt, ins Sammellager Nürnberg-Langwasser gebracht und von dort mit einem Sonderzug nach Riga deportiert wurden. „Wie die Menschen dort gestorben sind, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass aus diesem Transport allein zwei kleine Jungen überlebten, Herbert Main und Fred Zeilberger, zehn und elf Jahre alt.“ Bis Januar 1944 seien mehr als 2000 jüdische Mitbürger aus Würzburg und dem Umland deportiert worden. „Nie wieder soll dieses Menschen geschehen. Nie wieder sollen Hass und Ausgrenzung regieren, und das meine ich durchaus wörtlich. Ganz gleich welcher Religion, Hautfarbe, Herkunft oder sexuellen Orientierung: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar!‘“ Doch nicht jeder sehe das so, fuhr Schuster fort. „Wie anders wären sonst wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu erklären, wie der Zulauf, den populistische und rechtsextremistische Parteien in Europa erfahren? Und leider auch in Deutschland. 13 Prozent sind wahrlich schlimm genug für eine Partei, in deren Reihen Protagonisten Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit postulieren.“
Die Deportationen seien nur der Schlusspunkt einer Gewöhnung an Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Bewohner Würzburgs gewesen, sagte Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt. „Mit dem Wissen um die Vergangenheit können wir uns nicht blind stellen, wenn Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Abstammung, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft, ihres Glaubens, ihrer religiösen oder politischen Anschauungen abgewertet werden. Es gibt kein Leben zweiter Klasse!“ Es stehe den Menschen nicht zu, andere in Kategorien wie „wertvoll“ oder „unnütz“ zu unterteilen, mahnte Schuchardt. „Wir verurteilen alle, die dies tun, die Verlustängste anheizen und Ausgrenzung betreiben. Wir stehen für ein anderes Gemeinwesen und wollen dieses verteidigen. Wir wissen, was geschehen kann, wenn man nicht den Anfängen wehrt.“
„Es ist kein leerer Ritus, Jahr für Jahr diesen Weg gemeinsam zu gehen“, sagte Pfarrerin Angelika Wagner von der Gemeinschaft Sant’Egidio. Denn was damals passierte, sei heute nicht vorbei. „Im ersten Halbjahr 2017 stieg die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland erstmals seit zwei Jahren wieder an. Nach einer Studie des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Bundestags erlebten knapp zwei Drittel der deutschen Juden verbale oder tätliche antisemitische Angriffe.“ Wagner erzählte von T-Shirts, die bei Fußballspielen auftauchten – mit einem Bild von Anne Frank, dem Logo des gegnerischen Vereins und der Aufschrift „JDN Chemie“ („Juden Chemie“) und „Anne Frank freut sich schon“. Europa sei in der jüngsten Zeit stark und deutlich nach rechts abgedriftet, man spreche und handle offen rassistisch. „Mit unseren Worten und mit dem, was wir tun, entfernen wir kleine oder große Stücke aus den Mauern und bauen aus ihnen neue Brücken des Zusammenlebens.“
Zum Abschluss der Veranstaltung meldeten sich junge Menschen von der Gemeinschaft Sant’Egidio zu Wort. „Wir als Jugendliche wollen uns erinnern“, sagte Theresa Otterbeck. Indem man die Begegnung suche, könne man Vorurteile überwinden. „Es ist egal, welche Religion, Kultur oder welches Alter man hat. Wir gehören zusammen und gemeinsam können wir eine friedliche Kultur aufbauen“, sagte Mohamed aus Syrien. Er dankte Schuster ausdrücklich dafür, dass dieser bei seiner Rede zur Reichpogromnacht auch jene verurteilt habe, die Angst vor Muslimen verbreiten.
sti (POW)