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20 Květen 2009

Historiker und Revolutionär der Nächstenliebe

Chefredakteur der Katholischen Nachrichten-Agentur über den Preisträger des Karls-Preises

 
verze pro tisk

Mit der Entscheidung, den Italiener Andrea Riccardi zum Karlspreisträger des Jahres 2009 zu machen, hat das Karlspreis-Direktorium eingefahrene Wege verlassen. Denn anders als die meisten Preisträger der vergangenen Jahre ist Riccardi kein Politiker, sondern der Gründer einer geistlichen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche. Im Hauptberuf ist Riccardi, der weltweit durch die von ihm gegründete Gemeinschaft Sant'Egidio bekannt wurde, Historiker mit einem Lehrstuhl an der staatlichen römischen Universität „Roma Tre“. Ludwig Ring-Eifel, Chefredakteur der KNA, über Andrea Riccardi.
Unmittelbare Beiträge zur politischen Einigung Europas hat der Karlspreisträger des Jahres 2009 nicht geleistet. In dieser Hinsicht ähnelt er dem ebenfalls „religiösen“ Karlspreisträger des Jahres 1989, dem inzwischen verstorbenen Gründer der Brüdergemeinschaft von Taize, Roger Schutz. Doch trotz seines scheinbar unpolitischen Profils passt Riccardi gut in die Reihe herausragender Europäer, die diesen Preis erhalten haben, und unter denen Namen wie Winston Churchill, Vaclav Havel, Valerie Giscard d'Estaing und zuletzt Angela Merkel zu finden sind.

Denn der 1950 in Rom geborene Katholik hat seit seiner Studentenzeit, die mit dem bewegten Jahr 1968 begann, Glaube und gesellschaftliches Engagement als zwei untrennbar verbundene Bereiche begriffen. Und die von ihm gegründete Gemeinschaft hat sich mehr als jede andere zeitgenössische geistliche Bewegung im politischen Raum engagiert. Dazu zählen außer der Rolle als Friedensvermittler (meist in Afrika und Europa) auch erfolgreiche weltweite Kampagnen zur Abschaffung der Todesstrafe oder zur besseren medizinischen Versorgung von Aidskranken.

Schon in ihrer Frühzeit waren Andrea Riccardi und seine Freunde sozial engagiert. Die Gemeinschaft Sant'Egidio im römischen Stadtteil Trastevere traf sich nicht nur regelmäßig, um in der Bibel zu lesen und zu beten, sondern fragte stets, wie sie das Gebot der Nächstenliebe in die Praxis umsetzen könnte. Im Rom der frühen 1970er Jahre bedeutete das, in den heruntergekommenen Betonsiedlungen der römischen Vorstädte aktiv zu werden, hieß Suppenküchen für Obdachlose zu organisieren und Kinder von Roma und Sinti zu betreuen. Während viele seiner Altersgenossen sich in der radikalen politischen Linken engagierten, profilierte sich Andrea Riccardi als Revolutionär der Nächstenliebe.

Ihre karitative Basisarbeit in Rom hat die Gemeinschaft Sant'Egidio in den bisher 41 Jahren ihres Bestehens immer weiter ausgedehnt. Sie begründete ihren Ruf als glaubhafte und effiziente Gemeinschaft. Und sie sorgte dafür, dass Andrea Riccardi schon bald mächtige Fürsprecher in der Amtskirche hatte: In der Frühzeit den sozial aktiven römischen Kardinalvikar Ugo Poletti sowie Carlo Maria Martini, den späteren Mailänder Kardinal. Im Pontifikat von Johannes Paul II. bekam Riccardi dann sogar einen direkten Draht zum Papst und dessen nächster Umgebung.

Mit dem charismatisch-politischen Polen im Petrusamt fand Riccardi die wohl größte Schnittmenge. Beide sahen den Glauben als eine Größe, die politische Systeme friedlich überwinden kann. Beide erkannten früh, dass Europa politisch und religiös mit „beiden Lungenflügeln“ atmen, das heißt, auch die Spiritualität der Ostkirchen integrieren musste, um zusammenzuwachsen. Und beide ahnten früher als andere, dass es ohne den Frieden zwischen den Religionen keinen Weltfrieden geben konnte. Das Weltfriedenstreffen der Religionen in Assisi im Jahr 1986 war die sichtbare Frucht dieses neuen Denkens, und Riccardi hat es verstanden, diesen „Geist von Assisi“ auch über das Pontifikat von Johannes Paul II. weiter zu tragen.

Auch mit Papst Benedikt XVI. hat Riccardi viele Gemeinsamkeiten. Als der Papst unlängst in den Medien gescholten wurde, weil er gesagt hatte, dass Kondome allein nicht helfen, die Aids-Ausbreitung zu verhindern, sprang Riccardi ihm in Interviews zur Seite und wies eindringlich darauf hin, dass man die Worte des Papstes in der Presse verkürzt wiedergegeben habe. Benedikts wichtigstes Thema, die Einheit von Glaube und Vernunft, ist auch für Riccardis interreligiöses Friedensengagement ein wichtiger Ausgangspunkt.

Für ein Europa, das im Süden und im Osten an den großen muslimisch geprägten Kulturraum grenzt und das auch in seinem Inneren eine wachsende muslimische Minderheit beherbergt, ist der von Riccardi in einem seiner Bücher entwickelte Begriff des „convivere“ (Zusammenleben) von entscheidender Bedeutung. Der erfahrene Vermittler legt Wert darauf, dass die Konfliktparteien ihre je eigenen Identitäten und Interessen nicht in faulen Kompromissen zudecken, sondern wechselseitig anerkennen. Diese Ideen könnten für Europa in seiner gemeinsamen Außenpolitik gegenüber der islamischen Welt schon bald ebenso bedeutsam werden wir in einer Innenpolitik, in der kulturell-religiöse Konfliktlinien nicht mehr zu übersehen sind.


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